Montag, 9. März 2015

Schwarzer Kaffee


Klick. Dieses vertraute Geräusch. Klick. Meine Definition von Liebe. Klick. Immer wieder gleich. Klick. Trotzdem fühlte es sich an, als ob es jedes Mal etwas Neues war. Klick. Mit jedem ‚Klick‘ gab es etwas Neues zu entdecken. Klick. Klick. Klick. Ich nahm die Kamera vom Auge, sah mir die Bilder an. Bei einem blieb ich hängen, irgendwas störte mich daran. Ich betrachte es länger als die anderen und stellte fest, dass dort hinten eine Silhouette war, die mir beim Aufnehmen der Bilder gar nicht aufgefallen war. Vielleicht hörte es sich seltsam an, aber ich mochte die Silhouette, mochte das Bild, mochte die Art, wie sie den Sonnenuntergang zu unterbrechen schien, mochte die Art, wie sie auf den anderen Bildern nicht mehr da war, als wäre sie Einbildung oder so was. Manchmal war ich wirklich seltsam, aber es war mir egal, denn von dieser Art Gedanken bekam niemand etwas mit.
Daheim angekommen – es dämmerte bereits - dachte ich noch ein wenig über das Bild nach. Ich wusste nicht, warum, aber das Bild hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und ich würde es vielleicht nie wieder vergessen, außer, ich würde irgendwann an Demenz leiden. Als ich im Bett lag, dachte ich immer noch über das Bild nach. Konnte ein Bild so perfekt sein, obwohl es ein verdammter Sonnenuntergang mit irgendeiner bedeutungslosen Silhouette abbildete? Konnte das sein? Konnte es sein, dass man sich ein Bild verlieben konnte? Ich hatte schon oft von Leuten gehört, die ein Bild von einer bestimmten Person sahen und sich in diese verliebten, obwohl es nur ein einfaches Bild war. Aber es war ein Bild mit einem Sonnenuntergang und einem Schatten. Mehr nicht. Ich war schon ein paar Mal verliebt gewesen, harmlose Schwärmereien, aber auch da hatte ich solche Gedanken gehabt.  „Ist es möglich, sich in ein paar Sätze am Telefon zu verlieben?“ oder „Wie kann es sein, dass ich gerade mal seinen Namen und seine Interessen kenne und trotzdem der festen Überzeugung bin, ich werde den Typen mal heiraten?“ waren nur ein paar dieser Gedanken. Es war lächerlich, das wusste ich, aber…hatte ich mich tatsächlich in ein Bild verliebt? Für einen Moment überlegte ich, Milly zu schreiben, sie zu fragen, ob das sein konnte, wusste aber, dass sie nur lachen würde. Ich glaube, ich würde für sie auf immer das kleine, naive, lächerliche Mädchen bleiben, dass älter ist als sie, wenn auch nur ein paar Monate. Also ließ ich es und schlief bald darauf ein.
Am nächsten Morgen war das Bild in meinem Gedanken nicht mehr präsent und ich machte mich auf den Weg, neue Bilder zu machen. Gott sei Dank gibt es Samstage.
Ich stand also dort und lauschte immer wieder dem Klick während ich mich fragte, wie die Welt wohl auf dem Display und nicht durch den Sucher aussah. Wie immer wollte ich mir erst jedes einzelne Bild ansehen, wenn ich der Meinung war, genug Bilder gemacht zu haben und dann auch Bilder, mit deutlich erkennbaren Menschen zu löschen, wer wusste schon, wofür ich die Bilder mal gebrauchen würde, aber dieses Mal stand plötzlich jemand vor mir und sagte: „Hey, darf ich fragen, ob die Bilder gut geworden sind?“ Ich erschrak so sehr, dass mir die Kamera fast aus der Hand rutschte. „Ich…äh…ich wollte die Bilder eh löschen, weil du…äh…Sie…äh…“, stammelte ich, während der Junge, schätzungsweise 17 und ca. 1,80 groß, vor mir sich ungefragt und grinsend vorstellte: „Adam und bitte sag Du, so alt bin ich dann doch nicht. Und warum willst du die Bilder löschen, ich bin mir sicher, sie sind gut geworden.“ Ich starrte ihn an, fasziniert davon, welche Ausstrahlung er hatte und nachdem er mich irritiert ansah, sagte ich schnell: „Na ja, ich will vielleicht mal Profifotografin werden und will eben schon mal üben. Vielleicht brauch ich die Bilder ja mal für irgendwas und aus rein rechtlichen Gründen lösche ich alle Bilder, auf denen Menschen deutlich erkennbar sind…“ Ich wurde langsam leiser, als ich merkte, wie dämlich sich das eigentlich anhörte, aber Adam zog eine Augenbraue hoch und pfiff durch die Zähne. „Profifotografin also. Interessant.“ Ich nickte nur, konnte meinen Blick immer noch nicht von seinen blonden verwuschelten Haaren und den grünen Augen wenden. „Nach welchem Namen muss ich denn dann in den nächsten Jahren Ausschau halten?“, lachte er und sah mich gleichzeitig neugierig an. „Jana. Jana Heidfry.“, antwortete ich, während ich nur eines dachte: Was ist los mit dir? Warum fasziniert dich irgendein Kerl so dermaßen? „Jana“, wiederholte Adam gedehnt, ließ sich meinen Namen auf der Zunge zergehen und unwillkürlich strahlte ich, zumindest innerlich. Äußerlich wirkte ich wahrscheinlich immer noch wie ein besoffenes Lama. Anschließend lächelte er und meine Gedanken überschlugen sich, nichts gab mehr einen Sinn, ich wusste nicht mal mehr, ob meine Gedanken nicht einfach nur sinnlose Aneinanderreihungen von Buchstaben waren, dann sagte er: „Ein hübscher Name. Ich mag ihn.“ Kaum hatte er das gesagt, schien sich meine Angespanntheit, die mir jetzt erst auffiel, in Luft aufzulösen und ich wurde ein bisschen lockerer. „Ja? Ach, ich find‘ ihn ganz okay. Adam ist ein toller Name. Den hört man wenigstens nicht an jeder Straßenecke.“ Adam lachte kurz auf und in meinem Kopf setzte sich sofort ein Bild aus Regenbögen und Frühlingsblumen zusammen. Dann sagte er, mit einer Stimme, die mich an einen goldgelben Honigfluss erinnerte, dass er seinen Namen schrecklich fand, auf die Frage, warum genau, wusste er allerdings keine Antwort. „So was muss man doch wissen“, grinste ich. Adam schwieg kurz, seine Gedanken schienen abzuschweifen, dann sagte er plötzlich abrupt: „Lass uns nicht über Namen reden. Zeig mir die Bilder.“ „Aber ich hab…“, setzte ich an, aber Adam unterbrach mich einfach mit einem bestimmten: „Zeig mir bitte die Bilder“. Irritiert tat ich, was er verlangte und nachdem er alle Bilder, die ich heute gemacht hatte, gesehen hatte, sagte er: „Okay, danke.“ „Bitte…?“, erwiderte ich immer noch irritiert und verunsichert, dann fuhr ich fort: „Und was soll ich damit jetzt machen? Löschen? Soll ich sie dir schicken?“ „Mir egal. Behalt sie. Ich geh dann mal.“, sagte er und plötzlich schien alles Fröhliche, das er vorher hatte, wie weggeblasen und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er. Ich sah ihm nach, fragte mich, was passiert war, schob dann diese Gedanken beiseite und setzte meine Fotografien fort. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, bekam das Bild von Adam nicht mehr aus meinem Kopf. Immer wieder dachte ich an seine Stimme, an sein Lächeln und daran, wie versonnen er ausgesehen hatte, als er gedankenverloren in die Ferne starrte, allein der Gedanke daran ließ mich lächeln und alles in mir schien zu vibrieren vor Freude. Und plötzlich wanderten meine Gedanken wieder zu dem Bild von gestern. Gestern hatte ich angenommen, ich hätte mich in das Bild verliebt. Heute wusste ich, dass da Adam war. Keine Ahnung, warum ich das dachte, aber ich wusste, ich würde ihn wieder sehen. Eines Tages. Auf einmal wurde aus dem „Ich werde vielleicht Profifotografin“ ein „Ich muss unbedingt Profifotografin werden“, weil mir plötzlich klar wurde, dass dies vielleicht die einzige Möglichkeit war, in Adams Erinnerung zu bleiben und das wollte ich. Ich wollte nicht, dass er, ein Junge, den ich kaum kannte, von dem ich nichts wusste, der mich wahrscheinlich nicht mal großartig mochte, sondern mich einfach nur nett fand, mich einfach so vergaß, weil wir uns kurz unterhalten hatten. Jetzt nicht mehr.  Jetzt wollte ich für immer in seiner Erinnerung bleiben. Oder zumindest solange, bis er an Demenz oder zumindest Alzheimer litt, sollte dies jemals zutreffen. Das würde mir vollkommen reichen.

Ein paar Monate später – inzwischen war Juli und ich „trauerte“ Adam immer noch nach, hatte sein Gesicht nicht vergessen, doch die Stimme verblasste immer mehr – betrat ich einen Coffee-Shop, nur, um fast dem Drang wegzulaufen, nachzugeben. Adam stand dort und bediente. Ich atmete einmal kurz tief durch und trat ihm mit zitternden Knien gegenüber. Wie klischeehaft, dachte ich, während ich ihn anlächelte und versuchte, so zu tun, als ob ich ihn nicht wiedererkennen würde. „Jana“, sagte er überrascht. Er erkannte mich also noch. Er…er erkannte mich noch? Scheinbar schien mein Gesicht sich aufzuhellen, während ich auflachte und „Adam, richtig? Ich wusste doch, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst!“ erwiderte. Adam bedachte mich kurz wortlos mit einem Lächeln, dann fragte er: „Was kann ich für dich tun?“ Ich bestellte mir einen schwarzen Kaffee und während der Kaffee in den Becher lief, erzählte Adam mir, wie sehr er schwarzen Kaffee liebte. „Wir könnten uns doch mal auf einen schwarzen Kaffee treffen und uns näher kennenlernen“, schlug ich vor, rechnete allerdings mit einer Absage, weil mir, noch während ich es sagte, bewusst wurde, wie dämlich das „uns näher kennenlernen“ klang. „Warum nicht? Eigentlich weiß ich gar nichts über dich“, grinste Adam und mein Herz schien sich zu überschlagen. Nachdem ich meinen Kaffee erhalten hatte, zahlte ich und als Adam mir mein Wechselgeld überreichte, schob er mir noch einen Zettel dazu. Darauf stand seine Nummer, ich steckte sie triumphierend ein, ließ mein Triumphlächeln jedoch erst zu, als Adam mich nicht mehr sehen konnte. Die Leute, die mir auf der Straße begegneten, schienen mich anzustarren, was mir normalerweise peinlich gewesen wäre, doch heute war es mir egal. Was ein einziger Mensch doch mit einem anstellen konnte.
Drei Tage später rief ich bei Adam an, während ich in einem Café saß. „Hey Jana“, sagte er, bevor ich überhaupt ansetzen konnte. „Woher…?“, fing ich an, aber Adam unterbrach mich und teilte mir mit, dass ich die einzige Person sei, deren Nummer er nicht hatte und die seine Nummer hatte. Das wunderte mich und bevor ich überhaupt nachdenken konnte, hatte ich es bereits ausgesprochen. „Warum das?“, lachte Adam sein Regenbogen-Frühlingsblumen-Lachen. „Ich hätte gedacht, du gibst hunderten von Mädchen deine Nummer. Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn…“, ich brach ab, als mir klar wurde, was ich sagen wollte, nämlich wenn du nicht nur mich, sondern noch hundert andere dazu gebracht hättest, sich in dich zu verlieben. „Ja…?“, fragte Adam nach, doch ich winkte ab, „Vergiss es. Ist unwichtig.“, und ärgerte mich, als ich ihn leise lachen hörte. „Ich weiß, was du sagen wolltest.“, sagte er anschließend. „Was denn?“, fragte ich und war froh, dass er mich nicht rot anlaufen sehen konnte, während er sagte: „Du wolltest sagen, dass mir die Mädchen hinterher rennen, weil ich so…wie sagt ihr immer… ‚aww‘ bin, richtig?“ Ich lachte und stimmte ihm dann zu. Als Adam „Wusste ich’s doch. Ich verzaubere Mädchen. Warum wollte ich früher eigentlich immer diese seltsamen Zauberkästen haben, wenn ich das auch einfach mit ein bisschen Charme hinkriege?“ von sich gab, konnte ich ihn nicht nur grinsen hören, nein, ich hatte das Gefühl, er würde mir direkt gegenüber sitzen. Plötzlich tutete es in meinem Ohr und ich starrte das Telefon irritiert an, ehe Adams Lachen direkt vor mir war. „Was…?“, fragte ich immer noch irritiert. „Das war wirklich lustig, weißt du, ich stand die ganze Zeit um die Ecke und hab dich durch’s Fenster gegenüber beobachtet – das hat gespiegelt – und dann bin ich einfach reingekommen, als ich gemerkt habe, dass du zwar mit mir geredet, aber nichts draußen oder um dich herum wirklich gesehen hast. Da dachte ich, ich komm einfach rein und überrasch dich“, lachte Adam, ich lief rot an und stellte nebenbei fest, dass er ziemlich oft zu lachen schien. Das gefiel mir. Ich mochte sein goldgelber-Honigfluss-Lachen. Wir unterhielten uns eine ganze Weile und ich erfuhr, dass er 18 – also 2 Jahre älter als ich – war, Psychologie studieren wollte und früher einmal Voltigiert hatte, was er dann aber aufgrund eines Unfalls aufhören musste. „Ich kann an keiner Pferdeweide vorbei gehen, ohne den Drang zu haben, eins zu klauen und wieder zu voltigieren“, sagte er wehmütig und ich prägte mir den Gesichtsausdruck, den er hatte, ein. Plötzlich redete er wieder abrupt, nahezu kalt und ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung. „War es deswegen?“, fragte ich leise. „Wie meinst du das?“, fragte er nach und ich war froh, dass ausnahmsweise mal er irritiert war. „Damals, bei unserer ersten Begegnung. Du hast plötzlich in die Ferne gestarrt und danach wolltest du einfach nur die Bilder sehen. Deine ganze Fröhlichkeit war verschwunden.“, erklärte ich ihm und er nickte: „Ja…Ich hab eine Reiterin gesehen. Das hat Erinnerungen wach gerufen.“ Wieder war er für einen Augenblick abwesend, ehe er sagte: „Na ja. Erzähl mir etwas von dir.“, was ich dann auch tat. Zwischendrin unterbrach er mich einmal und entschuldigte sich, dass er mal müsse. Als er aufstand und ging, beobachtete ich ihn. Er und voltigieren? Niemals. Dafür war er viel zu muskulös. Von ihm hätte ich eher Dinge wie Boxen erwartet und bei dem Gedanken daran, wie sehr man sich doch täuschen konnte, hätte ich fast lauthals losgelacht, aber ich konnte mich noch rechtzeitig beherrschen. Adam kam wieder und ich saß immer noch grinsend da, also fragte er „Was ist so lustig?“, setzte sich und sah mich interessiert an. „Nichts“, sagte ich immer noch breit grinsend. Wir saßen beide eine Weile schweigend da und rührten in unserem schwarzen Kaffee und fast schon bedauerte ich es, dass er nicht mehr nachfragte und ich scheinbar nicht so interessant war, wie ich mich gefühlt hatte, als er mir interessiert zuzuhören schien, als ich ihm von mir erzählte, als er plötzlich das Schweigen zwischen uns mit den Worten „Weißt du, seit unserem ersten Aufeinandertreffen hab ich immer wieder an dich gedacht“ brach und plötzlich verflog das Gefühl der Behaglichkeit, dass ich die ganze Zeit hatte. „Wie…“, ich holte tief Luft, wollte die Frage nicht stellen, wollte die Antwort nicht wissen, „wie meinst du das?“ „Naja…“, fing er an, schien aber zu zögern, „ich habe mich gefragt, ob du noch fotografierst.  Mehr…mehr nicht.“ Dass er log, war nicht nur ihm klar, sondern auch mir, aber ich fragte nicht nach, aus Angst, nicht das zu hören, was ich erhoffte, auch, wenn es falsch und erbärmlich war. „Natürlich.“, lächelte ich. Er nickte, lächelte ebenfalls, wenn auch zögerlich, dann sagte er langsam und, was mich ein wenig überraschte, unsicher: „Okay, dann…ich geh dann, denke ich.“ Ich sah ihn nur an, blickte ihm in die Augen, die, wie mir jetzt erst auffiel, mit goldgelben Sprenkeln versetzt waren, nickte stumm, stand dann langsam auf und während Adam seinen Kaffee bezahlte, kramte ich meine Geldbörse heraus. „Nein, Jana, ich zahl das.“, sagte er und lächelte wieder so selbstbewusst, wie ich es gewohnt war. Also steckte ich mein Geld wieder weg und umarmte Adam spontan. „Danke“, flüsterte ich, obwohl ich gar nicht richtig wusste, was ich meinte. Er strahlte einfach nur weiter und als ich ihn wieder losließ, schien mein ganzer Körper zu brennen. Wir verabschiedeten uns und er ging umgehend aus dem Café, während ich noch einen Moment stehen blieb, warum, wusste ich selbst nicht, aber ich nutze die Zeit, um ihn zu beobachten. Adam holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, dann lief er davon, den Blick auf den Boden gerichtet. Irgendwas daran kam mir vertraut vor, ich wusste allerdings nicht, was.
Als ich nach Hause kam, beschloss ich, die Bilder, die ich bisher gemacht hatte, zu sortieren – oder zumindest damit anzufangen, denn das würde vermutlich eine ganze Woche in Anspruch nehmen. Während ich die Bilder so durchsah, dachte ich an Adam, dachte daran, wie unsicher er geworden war, dachte daran, wie er von seinem Unfall erzählte, dachte daran, wie sein Körper kein bisschen zu dem eines ehemaligen Voltigierers passte, dachte daran, wie er sich eine Zigarette angezündet hatte, dachte daran, wie vertraut mir seine Umrisse vorkamen, als er so in der Abendsonne nach Hause ging. Und genau in diesem Moment kam ich zu dem Bild, das die Silhouette zeigte, welche den Sonnenuntergang zu unterbrechen schien. Da begriff ich, wessen Silhouette das war. Ohne nachzudenken griff ich zum Handy und als angenommen wurde, fragte ich: „Beobachtest du mich? Wenn ja, wie lange, Adam?“
„Warum sollte ich dich beobachten?“, fragte Adam irritiert. „Woher soll ich das denn wissen?“, erwiderte ich und war sauer. „Auf jeden Fall habe ich das nie getan, falls dich das beruhigt.“, sagte er und plötzlich war seine Stimme sanft. Wie Watte und alles, was ich wollte, war, darin zu versinken. Stattdessen riss ich mich zusammen und sagte ruhig „Ja“, aber sicher war ich mir nicht, ob ich ihm glauben sollte. „Aber…“, setzte Adam an und ich schluckte. „Ich habe zufälligerweise das Bild mit dem Sonnenuntergang gesehen und ich mochte es. Ich wusste, dass ich das war und ich hatte gehofft, dass du mit dem Bild irgendwie berühmt wirst…oder so…“, fuhr er fort, ich entspannte mich und strahlte. „Gut, dass das geklärt ist“, sagte ich erleichtert und Adam stimmte mir zu. Wir verabredeten uns für die nächste Woche.
„Einen schwarzen Kaffee bitte“, bestellte ich bei der Bedienung und sah anschließend aus dem Fenster. Wo blieb Adam? Da, ich konnte ihn sehen und er – ich verschluckte mich an meinem Kaffee, als ich sah, dass er ein Mädchen im Arm hielt. Hatte ich mich geirrt? Was, wenn der Satz Weißt du, seit unserem ersten Aufeinandertreffen hab ich immer wieder an dich gedacht gar nicht so gemeint war, wie ich dachte? Was, wenn die „Begründung“, dass er sich gefragt hatte, ob ich noch fotografierte, nicht irgendeine Ausrede war? Was, wenn ich mir nur eingebildet hatte, dass er mir zulächelte, mich mochte? Was, wenn er das einfach bei jedem – oder besser gesagt jeder - tat? Was, wenn er damals als Telefon einfach auf gut Glück meinen Namen genannt hatte? Was, wenn ihm doch hunderte von Mädchen hinter her liefen? Was, wenn er sich endlich für eine entschieden hatte? Oder sich schon längst für sie entschieden hatte? Jahre, bevor wir uns kennenlernten? Was, wenn er die ganze Zeit mit mir geflirtet, mit mir gespielt hatte, nur, um mich auflaufen zu lassen, mich zu blamieren? Hatte er überhaupt mit mir geflirtet und Schrägstrich oder mit mir gespielt? Was, wenn meine dämlichen leicht von Minderwertigkeitskomplexen beeinflussten Gedanken alles übertrieben, sein Verhalten verzerrt – zurechtgezerrt – hatten? Was, wenn er eigentlich total „normal“ oder sogar eher abweisend war, aber mein Kopf sich das alles so „zurechtverändert“ hatte, damit ich mich besser fühlte? Was, wenn er nach unseren Gesprächen anfing, zu lachen, sobald ich außer Sichtweite war, weil ich für ihn nur ein kleines, dummes Mädchen war, das er nur zur reinen Belustigung traf? Was, wenn er die Bilder hässlich fand, vor allem das Sonnenuntergangsbild und sie einfach als schön betitelte, um mich zu ärgern? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, ich bekam Herzrasen, feuchte Hände und als ich Adam lachend mit der Fremden im Arm durch die Tür kommen sah, stand ich auf. „Ich komm gleich wieder, mir…mir geht’s nicht so gut“, sagte ich und lief zur Toilette.
Dort stand ich dann dem Spiegel gegenüber, stützte mich aufs Waschbecken ab, atmete tief durch, starrte in den Spiegel und kam mir vor wie in einem dieser Filme. Ich spritzte mir kurz Wasser ins Gesicht, ehe mich zusammenriss und mit einem Lächeln wieder zu Adam ging. „Hey, Adam“, begrüßte ich ihn und er strahlte mich an. „Das ist Stella“, stellte er mir die Fremde vor. Stella lächelte, reichte mir die Hand und ich zwang mich dazu, ihr nicht eine reinzuhauen. Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Ich warf Adam einen fragenden und Stella einen wohl eher unfreundlichen Blick zu, aber er schien zu verstehen, denn er lachte nur und erklärte: „Stella ist lesbisch, mach dir keine Gedanken. Und“, Freude blitzte in seinen Augen auf, „sie ist Profifotografin. Na, Überraschung gelungen?“ Er grinste mich an, während mir die Kinnlade runterklappte. Ich hätte Stella allerhöchstens auf 25 geschätzt, aber sie war, wie sie erzählte, bereits 30. „Oh“, brachte ich nur raus. Als Stella kurz auf die Toilette ging, wandte ich mich an Adam: „Die Überraschung ist dir tatsächlich gelungen. Und…Danke.“ Adam lächelte mich einfach nur an. „Gern geschehen“, sagte er, nachdem er mich eine Weile mit einem undefinierbaren Blick bedacht hatte und ich lächelte zurück. Da saßen wir also, grinsten uns – wenn auch wahrscheinlich etwas dämlich – an und das kam mir intimer vor als alles andere. Plötzlich wurde dieser Moment von Stella unterbrochen und wieder hätte ich sie am liebsten geschlagen, ganz egal, ob sie Profifotografin war oder nicht.
Stella und ich redeten noch bisschen, unterhielten uns über Fotografien, Motive, ihre Karriere, anschließend gab sie mir ihre Visitenkarte.
 Doch während all dem konnte ich mich nicht zusammenreißen, immer wieder Adam zu beobachten, allerdings hätte ich ein paar Mal beinahe ganz ekelhaft kitschig und pärchenmäßig nach seiner Hand gegriffen, aber in dem Punkt konnte ich mich dann doch beherrschen, wofür ich echt dankbar war.
Stella verabschiedete sich und ließ Adam und mich wieder alleine. Kaum war sie weg, platzte Adam heraus „Gott sei Dank, ich dachte schon, die geht nie!“ und lachte. Ich grinste zurück, völlig hingerissen von seinem Honig-Lachen. Wir schwiegen wieder einmal, beobachteten einander und tranken unseren Kaffee. Irgendwann brach Adam das Schweigen mit einem leisen und zögerlichen „Jana? Ich mag dich“, worauf ich mit einem „Ich dich auch“ antwortete. Adam jedoch fügte ein unsicheres „Nein, ich…ich meine…“, er atmete tief durch, ehe er sich zusammenzureißen schien und sagte: „Jana, ich hab mich in dich verliebt.“ Ich starrte ihn an, teils überrascht, teils glücklich. Er hingegen schien das anders zu deuten, denn als ich nicht reagierte, stand er auf und machte Anstalten, zu gehen. Während er sich umdrehte, zog er bereits seine Kippenschachtel und ein Feuerzeug heraus und irgendwie löste mich das aus meiner Starre. Ich sprang auf, rief „Warte!“ und fügte dann, als Adam mich mit Hoffnung und Angst in seinen Augen ansah, ein leises „Adam“ hinzu. Wenn ich ganz ehrlich bin, wusste ich nicht, warum ich den Drang hatte, seinen Namen auszusprechen, denn es war allen, auch denen, die es mitbekamen, klar, wen ich meinte. Zögernd machte Adam wieder ein paar Schritte auf mich zu und ließ die Zigarette zwischen seinen Fingern hin und her wandern. Ich grinste ihn an und grinste noch breiter, als ich seinen verwirrten Blick bemerkte. „Bist du echt so blind?“ Vor lauter Erleichterung rutschte Adam die Kippe aus der Hand und er lachte: „Und ich dachte schon, ich bilde mir das nur ein!“ Als er sich bückte, um die Zigarette aufzuheben, fing ich seine Hand ab und griff danach. „Pfoten weg.“, kommandierte ich und Adam zuckte lächelnd mit den Schultern. „Okay“, meinte er, dann legte er einen Zehner auf den Tisch und wir verließen das Café.

Die nächsten Wochen verbrachte ich fast nur bei Adam, da er schon alleine wohnte und meine Mutter nur genervt hätte. Wir sprachen über vieles. Über die Schule, über meine Zukunft, über seinen Job. Nur über eines sprachen wir nie: „Adam, wie war das, mit deinem Unfall?“ Er hatte bei dem Thema immer so reagiert, wie er es auch jetzt tat: „Jana, nein. Du weißt, dass ich darüber nicht rede. Das ist Vergangenheit. Ich lasse die Vergangenheit Vergangenheit sein, okay?“ „Aber das zerfrisst dich doch von innen, wenn du nie drüber redest!“, rief ich verzweifelt. „Ich habe oft genug darüber reden müssen, klar? Das Thema nervt nur noch, ich bin immer noch ein Mensch und nicht ein Unfall, der mir meinen Traum genommen hat. Das müsstest du doch am besten wissen!“, schnauzte er mich an und nahm seinen Arm, den er zuvor um mich gelegt hatte, von meiner Schulter. Wütend sprang ich auf. „Wenn ich dich daran erinnern darf, hast du mich anfangs auch nur auf meine Bilder reduziert!“, keifte ich. „Spinnst du?! Nie im Leben hab ich das gemacht, das ergibt doch gar keinen Sinn!“, entgegnete Adam erhitzt. Ich schrie irgendwas, von dem ich selbst nicht wusste, ob es Sinn ergab, ich wusste nicht mal, ob ich es wirklich schrie, denn ich konzentrierte mich mehr darauf, nicht loszuheulen. Ich wollte mich nicht streiten. Nicht mit ihm. Und heulen wollte ich vor ihm erst recht. Adam schrie irgendwas zurück, aber ich bekam es gar nicht richtig mit, das einzige, was ich wirklich merkte, war, wie es mir das Herz zerriss. Ich ertrug das nicht mehr, also stürmte ich wortlos aus seinem Zimmer, raus auf die Straße, nach Hause, wo ich meine Kamera packte und hoffte, dass es mir nach dem Fotografieren ein wenig besser ging.
Klick. Klick. Meine Definition von Liebe. Klick. Klick. Klick. Die einzige Liebe, die mich wohl niemals verlassen würde. Diese Liebe konnte mich nicht verletzen. Niemals. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Mich schüttelte ein neuer Tränenfluss, als ich Adams wutverzerrtes Gesicht vor meinem inneren Auge sah und ich begann zu beben. Verzweifelt versuchte ich mit ein paar weiteren Bildern – Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. – dagegen anzukämpfen. Ich drängte die Tränen zurück, verfluchte Adam dafür, dass er mich irgendwie weicher gemacht hatte, denn ich war mir sicher, dass mir das früher nicht passiert wäre, und starrte auf das Kameradisplay. Die Bilder waren unglaublich verwackelt, aber irgendwie mochte ich es. Nachdem ich gefühlte fünfhundert Bilder gemacht hatte, beschloss ich, nach Hause zu fahren und als ich mich umdrehte, um zu gehen, rannte ich in Adam hinein. Dieser umarmte mich sofort und murmelte irgendwas in meine Haare, vermutlich eine Entschuldigung oder Erklärung. Aber ich war immer noch sauer, also stieß ich ihn von mir und war überrascht, wie viel Kraft ich hatte. „Nein, Adam.“, sagte ich nur, während ich ihm abweisend in die Augen sah und dann davonlief. Er rief mir verzweifelt und verwirrt hinterher, aber ich ignorierte ihn.
Abends lag ich im Bett, fühlte mich alleine und war nicht mehr auf Adam wütend, sondern auf mich. Warum war ich eigentlich so stur? Adam hatte mich ja immerhin verzeihen können, warum konnte ich das nicht auch? Ich stand auf, frustriert, dass ich nicht schlafen konnte. Hätte ich jemals gewusst, dass Liebe, oder was auch immer das zwischen uns war, denn vielleicht war es ja auch einfach nur Verliebt sein, auf diese Art von Schlaflosigkeit bedeutete, hätte ich mich von Adam ferngehalten.
Die nächsten Tage ging ich Adam aus dem Weg, weil ich mich irgendwie verraten fühlte. Ich wollte ja eigentlich nur wissen, was genau bei dem Unfall passiert war und warum er deswegen nicht mehr Voltigieren konnte, mehr nicht. Nichts, was einem Therapiegespräch oder einem Kreuzverhör nahe kam. Und gerade das verschwieg er mir. In dieser Adam freien Zeit  dachte ich immer mehr darüber nach und darüber, ob ich das überhaupt wollte. Eine Beziehung, in der er mir nur minimal von etwas so wichtigem in seinem Leben verschwieg, ganz egal, ob für ihn „Vergangenheit Vergangenheit“ war oder nicht. Denn ich sah das anders. Manche Dinge konnte man abhaken, die erste Klasse zum Beispiel. Aber so etwas lebensveränderndes? Nein. Niemals. Und je mehr und öfter ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass ich nicht aufhören würde, ihn damit zu nerven, dass er anfangen würde, rum zu schreien, dass wir uns nur noch streiten würden. Es war mir jetzt schon peinlich, nur daran zu denken, dass meine erste Beziehung nach so kurzer Zeit schon wieder enden würde, weil mir klar war, was ich, wäre es nicht meine Beziehung und die Situation mir unbekannt, denken würde: „Das war eh nur ´ne Kindergartenbeziehung!“ Aber das war es nicht, da war ich mir sicher. Es passte nur nicht, ganz egal, wie toll Adam sein mochte. Ich wusste nicht, ob dieses „Lass uns Freunde“-Ding bei uns funktionieren würde, aber vielleicht konnte man es ja mal ausprobieren, soweit es für ihn auch okay war.
Nachdem ich mich zwei Wochen nicht bei ihm gemeldet hatte, fuhr ich entschlossen zu ihm. Ich war nervös, als ich vor seiner Tür stand und klingelte, aber aus der Nervosität wurde Verwirrung, als Stella die Tür öffnete. „Hi“, sagte sie ein wenig betreten und ebenso verwirrt. „Komm…doch rein“, fügte sie dann ein wenig zögernd und unsicher hinzu. Ich stürmte an ihr vorbei und zu Adam. „Sicher, dass sie auf Frauen steht?“, fragte ich nach. Alles lief aus dem Ruder, ich wollte das nicht mal sagen. Adam starrte mich fast schon freudig an. „Ja“, sagte Stella hinter mir und ich nickte. „Okay. Dann wär’ das ja mal geklärt“, sagte ich, denn eigentlich hatte ich mir das selbst gedacht und in Gedanken eine gescheuert. Ich wendete mich an Stella: „Würdest du bitte mal rausgehen?“ Stella verzog sich leise und ich setzte mich neben Adam auf sein Bett. „Adam“, fing ich ruhig und zögernd an. „Lass mich raten: Du machst Schluss?“ Verwirrt sah ich ihn an. „Woher…?“, setzte ich an, wurde aber von ihm unterbrochen. „Es endet immer so. Seit dem Unfall gehen alle meine Beziehungen daran kaputt. Ich hatte gehofft, dass das bei uns anders werden würde, ich habe wirklich daran geglaubt, weil…du bist irgendwie anders, Jana. Für mich bist du besonders, weißt du?“
 Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Es kam mir alles so unreal vor. Du bist anders, du bist besonders. Ich war durchschnittlich, es war okay für mich, es störte mich nicht. Ich kam mir vor ein Buch- oder Filmcharakter als er das sagte.
„Ich denke, ich bin deine erste Freundin…?“, fragte ich verwirrt. „Die erste, die ich auch als richtige Freundin bezeichnen würde. Bei den anderen bin ich mir nicht sicher, ob das nicht doch nur irgendsowas unreifes war. Deswegen musst du bleiben, bitte.“, erklärte er. „Nein, Adam. Lass es. Ich hab viel darüber nachgedacht. Ich meine,…ich will wirklich Schluss machen, ja, aber nur, weil ich weder mich selbst noch dich verletzen will, weißt du? Und ich weiß nicht, ob dieses „Lass uns Freunde bleiben“-Dinge wirklich klappt, aber ich wäre bereit, es zu probieren. Was hältst du davon?“, antwortete ich abwehrend. Adam schluckte, dann nickte er. „Okay. Ich würd’s versuchen.“ Wir schwiegen beide kurz betreten und gerade, als ich mich verabschieden wollte, merkte ich, dass er lächelte. „Was ist?“, fragte ich verwundert. „Ich hatte recht. Du bist doch irgendwie anders und besonders. Alle anderen haben den Kontakt komplett abgebrochen. Du nicht. Du bleibst trotzdem.“ Ich lächelte zurück. „Ja. Ich mag dieses abrupte Kontaktabbrechen nicht“, sagte ich, einfach, weil ich es nicht bei diesem leeren Ja belassen wollte. Adam nickte schweigend, dann verabschiedeten wir uns voneinander.


Ich hätte die Geschichte zwischen Adam und mir natürlich vorher einfach beenden können. Nicht im Sinne von Schluss machen, sondern im Sinne vom Erzählen. Ich hätte erzählen können, wie wir ein Paar wurden und einfach diese Zeit detailreicher erzählen können, aber zugegeben, ich weiß nicht, ob mir das nicht irgendwie ein wenig zu privat wäre. Davon abgesehen läuft das im echten Leben nicht so. Die allerwenigsten heiraten den Freund oder die Freundin ihrer ersten Beziehung, die gehen ja doch nur in die Brüche. Und das wollte ich erzählen und klarmachen. In den Filmen endet das ganze meistens mit einem Kuss, in Büchern auch oft genug. Aber ich wollte es anders machen, mich irgendwie hervorheben.
Ich habe übrigens mit Stella eine Art Probeshooting gemacht, dabei haben wir festgestellt, dass wir beide völlig verschiedene Arten von Fotografien mögen, deswegen hat auch das nicht hingehauen. Aber das ist okay für mich. Ich muss nicht berühmt werden. Ich bin Adams erste richtige Freundin, ich bin die erste, die nicht gleich den Kontakt abgebrochen hat, ich werde immer in seiner Erinnerung bleiben. Und das fühlt sich unglaublich gut an. Ich lasse die Zukunft auch mich zukommen und auch das ist gut so. Ich würde sagen, ich bin glücklich.

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