Montag, 9. März 2015

Hässliche Schönheit

Das Erste, was ihm an ihr auffiel, waren ihre Zähne. Es wirkte fast so, als ob man ihre Zähne wie ein U aneinandergereiht und ihr in den Mund geschoben hätte, als wäre sie ein Boxer und die Zähne ihr Mundschutz. „Für die Zähne hat’s nicht mehr gereicht“, meinte sie und obwohl sie grinste, schien es fast, als ob sie jeden Augenblick losheulen würde. Verwirrt sah er sie an. „Wie meinst du das?“ Sie lachte hell auf und auch, wenn es unglaublich schrill war und beinahe in den Ohren schmerzte, passte es so gut zu ihr, dass es nahezu schön an ihr wirkte. „Denkst du wirklich, dass die“, sie deutete auf ihre Nase, „die“, ihr Finger wanderte zu ihren Lippen, „die“, sie griff sich an die Brüste, „der hier“, ihre Hände strichen über ihren Bauch, „der“, sie zwickte sich in den Hintern, „und das hier“, sie deutete auf ihre Stirn, „echt sind? Ich bitte dich.“ Er schluckte, als ihm klar wurde, was genau ihn an ihr noch gestört hatte – denn ihr Gesicht war nicht mehr das, was es einmal war. Es war voller Gifte, Plastik und anderem, definitiv ungesundem, Zeug. Sie strahlte ihn mit ihren so echten, aber doch so falsch wirkenden, Zähnen an und sagte: „Ich hatte einen guten Chirurgen. Jetzt bin ich schön und lebe so…“, sie machte eine Pause, während sie eine ausschweifende Bewegung machte und dabei auf den Bereich unter der Brücke, der voller alter Decken, Müll und hier und da sogar mit ein paar Heroinspritzen versehen war, „hässlich.“ In ihm stieg Wut auf. „Hör mal, das hier ist einer der sichersten Orten für Penner wie uns. Ich war schon an hässlicheren Orten“, schimpfte er und spuckte verärgert auf den Boden. Angewidert rutschte sie ein wenig weg. „Hässlich ist es trotzdem, vor allem, wenn man vorher unglaublich gut gelebt hat“, erwiderte sie und ihr hochnäsiger Ton widerte ihn an. „Ach“, meinte er verächtlich. „Dann erzähl mal, wie ‚toll’ dein Leben vorher war.“ Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick. „Bevor ich dir irgendwas erzähle…Hi, ich bin Lynn“, sagte sie anschließend und reichte ihm die Hand. „Mick“, erwiderte er und schüttelte lächelnd ihre zarten Hände. Unwillkürlich überlegte er, ob sie überhaupt echt waren.

Teil 1

Lynn stand vor dem Spiegel und wischte sich wütend den Lippenstift weg. Der würde sie auch nicht schöner machen. Wenn sie ehrlich war, ließ er sich nur noch hässlicher aussehen. „Wie ´ne Nutte“, murmelte sie. Frustriert warf sie den Lippenstift auf die kleine Kommode neben dem Spiegel und ging dann, ohne eines weiteren Blickes, an ihm vorbei.

Als sie im Matheunterricht saß, hörte sie, wie die anderen wieder lästerten. Sie konnte nicht verstehen, was genau sie sagten, aber denken konnte sie es sich allemal: Hast du ihre Haare gesehen? Voll eklig!Ja, und ihre Schuhe erst. So ein No-Go!Am schlimmsten sind immer noch ihre Brüste oder was auch immer das darstellen soll. Sie hatte das oft zu hören bekommen und sie hatte auch genauso oft überlegt, einfach den einzigen Trumpf, der ihr bisher überhaupt Freunde beschert hatte, nämlich das viele Geld ihrer Eltern, auszuspielen, aber sie wusste, dass sie dadurch auch keine wahren Freunde bekommen würde und das wollte sie auch nicht. Also blieb sie für alle das hässliche Mädchen mit den durchschnittlichen Eltern und für sie war das vollkommen okay. Denn wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie nicht noch einen weiteren Stempel, nämlich die reiche Zicke, die dachte, sie könne alles erlauben und jeden haben, auch, wenn sie unglaublich hässlich war, verpasst bekommen, vor allem, weil es nicht mal wahr gewesen wäre.
Und noch während sie frustriert die anderen flüstern hörte, fasste sie einen Entschluss: Sie würde das Geld ihrer Eltern einsetzen und schön werden.

Zuhause stellte sie sich erneut vor den Spiegel, mit einem Stift und einem kleinen Notizbuch in der Hand, um sich alles aufzuschreiben, was sie wie verändern wollte. Und noch während sie sich auf den Spiegel zu bewegte, wusste sie, dass die Liste lang und ihr Konto irgendwann leer werden würde.
Sie betrachtete ihr Gesicht eingehend, wenn auch mit großer Anstrengung, denn normalerweise tat sie alles, um es sich nur kurz oder möglichst gar nicht anzusehen. Lynn schluckte, als sie ihre Lippen studierte, die für ihren Geschmack zu dünn und zu kurz waren und schrieb es auf. Danach verzog sie ihren Mund zu einem Lächeln und der Anblick ihrer Zähne bereitete ihr Gänsehaut. Das kam als nächstes auf ihre Liste und schon jetzt wusste sie, dass sie das eine Menge kosten würde. Als sie damit fertig war, schenkte sie ihrer knollenartigen Nase, ihren Brüsten, die eher denen einer Elfjährigen und nicht die einer sechzehnjährigen glichen, ihrem kleinen Bäuchlein, ihrem zu großen Hintern und ihrer Stirn, die, zumindest war Lynn fest davon überzeugt, jetzt schon ganz faltig war, ihre ganze Aufmerksamkeit. Eine halbe Stunde später war sie damit fertig, schrieb alles auf und brach anschließend in Tränen aus. Es wunderte sie kein bisschen, dass ihre Klasse so über sie herzog. Sie war kein Mensch, sie war ein Troll. Es schockierte sie, dass das erst jetzt, nach 16 Jahren, zu bemerken schien. Umso erleichterter war sie, dass sie das jetzt ändern konnte. Allerdings wusste sie nicht genau, ob man mit 16 bereits Schönheits-Operationen an sich durchführen lassen durfte, was sie unglaublich ärgerte. Sie überlegte lange hin und her, ob sie die Unterschrift ihrer Eltern oder ihr Alter fälschen sollte, da sie im Internet keine richtige Antwort gefunden hatte. Irgendwann murmelte sie „Scheiß drauf, ich mach mich älter, dann kann ich eh alles machen lassen!“ und fragte sich, warum sie überhaupt so rumüberlegt hatte. Anschließend suchte sie einen geeigneten Chirurgen und rief bei ihm an. „Hallo, ich bin Lynn Müller und ich wollte einen Termin ausmachen.“, sagte sie freundlich und beantwortete die Frage „Wie alt sind Sie denn?“ mit „Achtzehn“. „Okay. Was wollen Sie denn machen lassen?“ Lynn zog die Augenbrauen hoch, denn sie hatte nicht darüber nachgedacht, dass man nicht alles auf einmal machen konnte. Sie warf einen Blick auf ihre Liste und sagte dann: „Die Nase“ Es dauerte eine Weile, aber schon bald hatte sie ihren ersten Termin.
Ein paar Wochen später lag sie bereits auf dem OP-Tisch und auch, wenn sie sich freute, endlich ein wenig schöner sein zu können, war sie unglaublich nervös, dass etwas schief gehen könnte, auch, wenn der Arzt ihr oft genug versichert hatte, dass dem nicht so sei.

In den nächsten Tagen schwollen ihre Wangen, Augenlider und ihre Nase an, sodass es aussah, als wäre sie in eine Schlägerei geraten. Lynn war froh, dass ihre Eltern zu dieser Zeit auf irgendeinem Kongress, der wochenlang andauerte, waren und sie deswegen nichts mitbekamen, zumindest für den Moment.
In der Schule wurde sie dafür bewundert, trotzdem hörte niemand auf, zu lästern, denn hässlich war sie schließlich immer noch. Das änderte sich nicht, nur, weil aus ihrer knolligen Nase eine lange, schmale wurde. Irgendwann sprach Sina, die Beliebteste und Schönste der Klasse, sie auf ihre Nase an: „Haben dir das deine Eltern gezahlt? Also, dass die dir das erlauben, wundert mich nicht, ich meine…egal, aber ich glaub dir nicht, dass ihr so was bezahlen könnt!“ Ihr Ton war so arrogant, dass Lynn ihr am liebsten die Extension aus den Haaren gezogen hätte. „Weißt du, ich hab’s selbst gezahlt. Ich spar mein Geld lieber und geb’ es für sinnvolles aus und nicht für hässliche falsche Haare und überteuerte Markenklamotten“, lächelte sie Sina an und ging dann davon. Ihre neue Nase hatte ihr Selbstbewusstsein ein wenig gesteigert.

Sie trieb das Operationsspiel monatelang, die Termine legte sie immer so, dass ihre Eltern zu dieser nicht da waren und sie wurde immer kreativer, ihre Veränderungen zu verstecken.
Nach der Nase, die sie sich angeblich mit extrem viel Schminke „verschönert“ hatte, ließ sie sich das Fett an Bauch und Po absaugen, ihren Eltern erzählte sie, sie hätte mehr Sport gemacht.
Als ihre Eltern sie auf die Brustvergrößerung ansprachen, nämlich mit einem „Sag mal, was ist eigentlich mit deinen Brüsten passiert?“, antwortete Lynn leichthin: „Ich hab mir kleine Kissen gekauft, wenn ich alt genug bin und mich trotzdem nicht damit abfinden kann, dass sie so klein sind, lass ich sie mir operieren.“ Da wurde ihr Vater plötzlich ernst und sagte stirnrunzelnd: „Nur, weil wir reich sind, musst du nicht gleich zu solchen Mitteln greifen. Andere haben nicht solche Chancen und früher haben die Menschen auch ohne solche OPs überlebt. Ich hoffe doch wirklich, dass du da nur eine Phase durchmachst. Es macht mir ja schon Sorgen, dass du solchen Aufwand um deine Nase und deine Oberweite machst.“ Ihre Mutter, der vermutlichste oberflächlichste Mensch, den Lynn kannte, mischte sich mit einem „Georg, lass das Mädchen doch in Ruhe! Wenn sie sich so schöner fühlt, warum denn bitte nicht?“ ein und legte den Arm beschützend um ihre Tochter. Lynn war zwar erleichtert, dass wenigstens einer der beiden sie bei ihren OPs unterstützen würde, sobald diese aufflogen, gleichzeitig fühlte sie sich verraten, denn hätte nicht jede andere Mutter Dinge wie „Sie ist schön, so wie sie ist, die OPs wären doch völlig sinnlos“ gesagt? Vermutlich. Es machte sie irgendwie wütend, dass ihre Mutter scheinbar so kalt wurde und das nur durch das viele Geld. Sie stand auf, murmelte „Ich muss gehen“ und ging in die Schule, dort wurde sie inzwischen bewundert und beneidet, es war mittlerweile fast allen klar, dass ihre Eltern ein höheres Gehalt hatten als andere. Ihre Lehrer und Mitschüler lächelten sie immer öfter freundlich an, machten ihr Komplimente, anfangs war Lynn regelrecht süchtig danach, irgendwann gewöhnte sie sich daran und anfänglich versuchte sie alles, sich nicht daran zu gewöhnen, da sie wusste, was daraus wurde – ein Mensch, wie ihre Mutter. Oberflächlich. Falsch. Geldgierig. Süchtig nach Komplimenten. Gnadenlos. Und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden, allerdings war sie sich sicher, dass sie niemals so werden würde. Oder redete sie sich das einfach nur ein?

Den nächsten Termin, den sie ausmachte, war für ihre Stirn.
Beim Bezahlen merkte sie, dass das Geld knapp wurde, machte sie aber keine großen Sorgen und redete sich die Sache mit „Demnächst gibt’s wieder Taschengeld“ schön und fühlte sich sofort ein wenig besser.
Ihre Botox-Stirn fiel ihren Eltern glücklicherweise nicht auf und auch nicht, dass sie ihren Eltern für ihre Lippen-Operation Geld stahl.
Lynn fühlte sich unglaublich dreckig und in der ersten Woche nach dem Diebstahl duschte sie länger und öfter, weil sie sich einbildete, dadurch ihr schlechtes Gewissen abwaschen zu können. Immerhin musste ja etwas am Begriff „sich reinwaschen“ etwas Wahres dran sein. Als sie gerade wieder mal duschte, merkte sie, dass das ganze Geschrubbe und Gewasche nichts brachte und letztendlich nur Wasserverschwendung war. Also drehte sie frustriert das Wasser ab, stieg aus der Dusche, wickelte sich in ein Handtuch und lief dann vom Bad in ihr Zimmer, da sie ihre Klamotten dort vergessen hatte. Dabei traf sie auf den Flur auf ihre Mutter, deren Blick irritiert an der Oberweite ihrer Tochter hängen blieb. „Schatz, was ist mit deinen Brüsten los?“ Lynn, die sich bereits so sehr an ihre neue Oberweite gewöhnt hatte, fragte verwirrt zurück: „Was soll damit sein?“ „Na ja, du wirst die ja wohl nicht unter dem Handtuch ausstopfen!“, rief ihre Mutter theatralisch und Lynn wurde schlecht, als ihr bewusst wurde, dass sie aufgeflogen war. Sie schwieg und kämpfte gegen die Tränen an, denn die Lügen und vor allem der Diebstahl hatten sie extrem belastet, auch, wenn sie es bisher gut verdrängt hatte. Der Blick, besorgt und wütend, ihrer Mutter, die wohl begriff, dass Lynn den Eingriff längst hinter sich hatte, ruhte immer noch auf dem Mädchen und ließen es letztendlich zusammenbrechen. Lynn brach in Tränen aus, heulte, jammerte, wimmerte immer wieder, wie leid es ihr tue, wie sehr sie es bereue, auch, wenn sie nicht mal den Hauch von Reue verspürte, und wehrte sich nicht, als ihre Mutter sie in den Arm nahm. Nachdem Lynn sich beruhigt hatte, sagte ihre Mutter: „Jetzt geh erstmal in dein Zimmer und zieh dich an, dann erzählst du mir alles, okay, Schatz?“ Lynn nickte schniefend, dann ging sie und zog sich an. Gerade, als sie fertig war, klopfte es an ihrer Tür und nachdem sie „Herein“ gerufen hatte, trat ihre Mutter ein. Lynn setzte sich aufs Bett und ihre Mutter ließ sich neben ihr nieder. „Also, Liebchen, erzähl mal“, sagte sie ruhig, während sie ihrer Tochter über den Rücken strich, was bei dieser nur erneut Tränen hervorrief. Stockend berichtete sie von den Mädchen, die seit Jahren schon über sie herzogen, davon, dass sie sich schon immer hässlich fand, davon, dass ihr plötzlich die Idee kam, sich operieren zu lassen und das viele Geld ihrer Eltern endlich mal „sinnvoll zu nutzen“. Ihren Bericht versuchte sie stammelnd mit „Mama…es tut mir so leid, aber ich hatte nicht mehr genug Geld und dann…ich…ich…Mama, ich…hab…“ zu schließen, aber ihre Mutter kam ihr sanft aber bestimmt zuvor: „Du hast Geld geklaut, richtig?“ Lynn nickte und biss sich auf die zitternde Unterlippe. Ihre Mutter nickte nur langsam und bedächtig, dann holte sie tief Luft und sagte: „Also, erstmal…Wieso hast du nicht mit uns darüber gesprochen? Wir hätten doch da so vieles einrichten können, das weißt du doch! Und – so leid es mir tut – ich muss mit deinem Vater darüber sprechen, das ist dir hoffentlich klar.“ Diesmal war Lynn an der Reihe zu nicken. „Ja“, sagte sie, wenn auch eher leise und kläglich, es war fast nur noch ein mühevolles Krächzen. „Okay. Dann lass ich dich jetzt mal in Ruhe und rede mit deinem Vater, ja?“, murmelte Lynns Mutter und ging zur Tür. Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch mal um, grinste und sagte „Übrigens, du hast dir einen verdammt guten Chirurgen gesucht“ und zwinkerte ihr zu. Lynn zwang sich zu einem Lächeln und war froh, als ihre Mutter endlich weg war.
 Es hatte zwar gut getan, mit jemanden darüber zu reden, trotzdem bereute sie es und beinahe hoffte sie, dass das alles nur ein Traum war.

Dass das alles kein Traum war, wurde ihr klar, als die Tür aufgerissen wurde und ihr Vater mit hochrotem Kopf in ihrem Zimmer stand. „Dass du uns so anlügst, ist das eine. Dass du einfach so irgendwas an dir rumoperieren lässt, geht gar nicht. Aber dass du uns beklaust! Das…das…das ist unglaublich!“, brüllte er. Lynn schluckte. „Ach so, aber dass ihr mich ständig alleine lasst und euch `n Dreck um kümmert, das ist okay oder was?“, brüllte sie zurück. Es war das erste, was ihr einfiel und sie fand, dass das ein gutes Argument war. „Das, meine Liebe, ist was völlig anderes. Wir arbeiten, ganz im Gegensatz zu dir!“, antwortete ihr Vater immer noch lautstark. „Ich geh in die Schule und weißt du, was ich mir alles anhören musste, hä? Ich wäre hässlich, eklig und was weiß ich noch alles. Ich wollte nur einmal in meinem Leben schön sein, aber das raffst du ja nicht, du Spießer!“, schrie sie. Dann stand sie auf und wollte gehen, doch ihr Vater hielt sie fest. „Dageblieben.“, zischte er. Sie versuchte erst, sich zu wehren, ließ es dann aber bleiben, als sie merkte, dass sich der Griff ihres Vaters um ihren Arm eher verstärkte und nicht lockerte. Lynn stellte auf Durchzug und bekam gar nicht mit, was er ihr alles an den Kopf warf. Sie wollte es auch gar nicht wissen, es war ihr egal. Der letzte Teil jedoch rüttelte sie wieder wach: „Raus mit dir. Ich will dich nicht mehr wieder sehen. Mal sehen, ob du auf der Straße auch so gut zurechtkommst. Jetzt, wo du doch ach-so-schön bist. Damit kommst du bestimmt unglaublich weit.“ Sie starrte ihn an, dann sagte sie leise: „Das meinst du nicht ernst“ „Oh doch, das tu ich.“, war die wütende Antwort. Lynns Mutter redete auf ihn ein, während das Mädchen ein paar Dinge zusammenraffte. Lynn selbst war unglaublich wütend, gleichzeitig versuchte sie, sich selbst einzureden, dass es ihr egal war, dass ihr Vater sie raus warf, dass er es sowieso bereuen und sie wieder zurückholen würde, dass er das gar nicht durfte. Gleichzeitig wusste sie, dass dem nicht so war.

Herr Müller hatte sich inzwischen wieder beruhigt, trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, seine Tochter vor die Tür zu setzten. „Sie ist selbst schuld. Lässt die Göre einfach an sich rumpfuschen, belügt und beklaut uns, was denkt sie eigentlich, wer sie ist?“, zeterte er immer wieder und als Lynn aus der Tür und auf die Straße trat, warf er die Tür so heftig zu, dass die Fenster klirrten. Sie schluckte, dann machte sie sich auf den Weg, um einen Ort zu finden, an dem sie die nächsten Nächte verbringen konnte. Sie verfluchte das Wetter, denn jetzt war Oktober und ihr war jetzt schon unheimlich kalt.

Teil 2

Mick rannte, in der Hand den kleinen Beutel mit dem Essen, das ihn einen weiteren Tag am Leben halten sollte. Er hatte unglaublich Hunger und war froh, endlich etwas gefunden zu haben. Er verlangsamte stetig seinen Lauf, irgendwann ging er nur noch. Unterwegs traf er auf Oskar, den er schon kannte, seitdem er die ersten Wochen auf der Straße lebte. Oskar war ungefähr sechzig, zumindest schätzte Mick das, denn der Alte redete nie darüber, genauso wie über die Zeit vor der Straße. „Hey, Oskar, ich hab dir was mitnehmen können!“, rief er und winkte ihm schon weitem zu. Er lief auf die Bank, die Oskar nun schon seit langem „gehörte“ zu und gab ihm zwei Äpfel. „Ich versuch, später noch mehr auftreiben zu können, okay?“, sagte er und ließ sich neben dem Alten nieder. Oskar nickte nur grinsend und biss dann in einen Apfel. „Danke, Junge“, meinte er kauend und klopfte dem 20 Jährigen auf die Schulter. Der kramte ein halbes Brötchen heraus und kaute langsam und genüsslich darauf herum. Es war lange her, dass er ein Brötchen, dass noch so gut schmeckte, geschweige denn generell ein Brötchen oder irgendwas, was einem Brötchen auch nur annähernd ähnelte. Oskar fragte, woher er das Essen hatte, aber Mick lachte nur. „Das fragst du jedes Mal, obwohl du weiß, dass ich dir das nicht beantworten werde!“ Oskar grummelte vor sich hin und Mick unterdrückte ein Grinsen, weil er wusste, dass Oskar bezüglich des Essens fast abhängig von ihm war und irgendwie mochte er das. Gerade, als er sich wieder auf den Weg machen wollte, sauste die Hand vom Alten, der klischeehaft, wie er war, wegen seines mehr oder weniger übermäßigen Alkoholkonsums, doch recht dick war, auf seine Schulter. „Junge, Junge. Wenn du’s mal nicht wieder hier runterschaffst, zweifle ich echt an der Welt“, meinte er eher geistesabwesend und zu sich selbst als zu Mick. Den überraschte das so sehr, dass er aufstand und abwehrend davon stolperte. Solche Situationen mochte er nicht, sie machten ihm Angst.
 Früher war Mick eine Art Straßenkämpfer gewesen, einer der „Härtesten“, zumindest wurde ihm das nachgesagt, Mick selbst lachte darüber nach. Damals war es egal, wo er hinkam, egal, wie alt oder jung, wie lang oder kurz die Obdachlosen schon auf der Straße lebten, irgendwie schienen sie immer ein wenig Angst zu haben. Er wusste nicht, woher dieser Ruf kam, vor allem, da er nur das tat, was andere auch taten: Sich irgendwie durchschlagen. Trotzdem nutzte er diesen großen Respekt gerne aus, denn wer würde das nicht, wenn ein 30 jähriger vor einem 17 jährigen steht und darum bittet, ihm nichts zu tun? Durch diesen Ruf musste Mick immer abweisender werden, was ihm nicht schwer fiel, denn er war noch nie der offenherzlichste Mensch gewesen. Oskar war einer der wenigen Ausnahmen gewesen, den Alten hatte es nie gestört, dass er angeblich mit einem „Brutalo“ zu tun hatte. Er lachte über Micks Ruf genauso laut und oft wie Mick selbst.
Als Mick so abwehrend davon lief erinnerte er sich wieder an diese Zeiten. Ausnahmsweise lachte er nicht darüber, so, wie er es sonst immer tat. Stattdessen war er so verwirrt und gleichzeitig verschreckt von der, seiner Meinung nach, intimen Situation zwischen Oskar und ihm, dass er sich mehrmals verlief und dabei Orte sah, die er sonst aus gutem Grund vermied.

Es war kalt, Micks Decken konnten ihn auch nicht mehr wärmen und er verfluchte sich dafür, dass er beim letzten dumpstern nicht gleichzeitig auch nach ein paar Decken geguckt hatte, die irgendein anderer seiner „Sippe“, wie er oft genug genannt wurde, verloren hatte. Als er an seinen letzten Dumpster-Trip dachte, knurrte ihm der Magen, als vor seinem innere Augen Bilder auftauchten von Essen, das noch gut, teilweise frisch verpackt, in dem Container liegen geblieben war, aber leider nicht mehr in seine Taschen gepasst hatte. Das Dumpstern war einer der Gründe, warum er Oskar nichts von seinen Essensquellen erzählte. Denn Oskar hatte schon oft genug deswegen Ärger mit der Polizei gehabt und nachdem einer von Oskars alten Freunden wegen schlechtem Essen, das er beim Dumpstern mitgenommen hatte, an einer Lebensmittelvergiftung gestorben war, lehnte der Alte Essen „frisch aus dem Container“ ab. Mick fragte sich, wie Oskar wohl reagieren würde, wenn er wüsste, dass er immer noch Essen der Art, die er so sehr ablehnte, zu sich nahm. Vermutlich würde er ihm den Kopf abreißen oder sämtliche Nahrung verweigern. Mick bekam ein schlechtes Gewissen, als er daran dachte, dass es dem Alten vermutlich nicht mal großartig schaden würde, ein bisschen weniger zu essen.
Irgendwann schlief er ein und träumte, wie so oft, von einem besseren Leben, in einem Haus, mit genug zu Essen, ausreichend Decken, ohne Geldsorgen und einer wesentlich geringeren Gefahr, ausgeraubt zu werden. Seit Monaten träumte er von nichts anderem mehr, obwohl er eigentlich längst an das Straßenleben gewöhnt war. Jetzt, wo es Winter wurde, wurde es auch wieder härter. Mick hoffte, dass es nicht schneien würde, denn auch, wenn er Schnee liebte, erschwerte er das Straßenleben um einiges.
Als er aufwachte, regnete es und Mick versuchte, die feuchte Decke einigermaßen trocken zu klopfen und fluchte, als er erfolglos blieb. Er wünschte sich den Sommer zurück, denn dann brauchte man keine Decken und musste keine Angst haben, dass Finger, Zehen oder man als „Gesamtpaket“ erfror. Davor hatte er selbst am meisten Angst. Einfach erfrieren, weil man nicht genug Decken hatte. Mick stellte sich diesen Tod immer unglaublich grausam und langwierig vor. Der Gedanke daran bereitete ihm Gänsehaut und sein Herz begann, schneller zu schlagen, als in ihm erneut die Angst hoch stieg, doch noch zu erfrieren.
 Er schloss die Augen und hatte plötzlich das Gefühl, wieder Sonnenstrahlen auf dem Gesicht zu spüren, dass es wieder wärmer und irgendwie leichter, auf der Straße zu leben, wurde. Das Gefühl hielt allerdings nicht lange an, denn plötzlich traf ihn etwas am Kopf. Verwirrt öffnete er die Augen und bemerkte eine Cola-Dose, die neben ihm am Boden lag. Er war zwar nicht unbedingt ein Mensch, der gut im Beobachten war, dennoch war selbst ihm klar, dass die Metallbüchse ihn am Kopf getroffen und vorher nicht dort gelegen hatte. Irritiert drehte Mick sich im Kreis, bis er ein Lachen über sich hörte. Er richtete seinen Blick nach oben und entdeckte Kim. Kim war ein Punk und transsexuell, Mick wusste nicht mal, ob Kim ein Kerl war oder nicht, aber es störte ihn nicht, denn Kim ging ihm einfach nur die Nerven und er war froh, ihn oder sie schnellst möglichst wieder loszuwerden. „Was willst du?“, rief Mick und er bekam sofort schlechte Laune. Kim grinste ihn nur an und sagte: „Wollte dich nur ärgern. Bis denne!“ Dann ging er einfach davon. Mick war so frustriert und wütend auf diese überflüssige Aktion, dass er nach der Cola-Dose griff und sich gegen die Brückenwand schleuderte. Dort prallte sie ab und fiel scheppernd wieder auf den Boden. Das Geräusch wurde durch die Brücke und dem leeren Raum darunter nur verstärkt. Und obwohl Mick den Lärm hasste, trat er immer die gegen die Dose, kickte sie hin und her, bis das Klackern ihm Kopfschmerzen bereitete. Er wusste nicht genau, was er tun sollte und verfluchte einmal mehr das Straßenleben.
Gedankenverloren lief er durch die Gegend und kam am Park an. Er hoffte, auf Oskar zu treffen, den er allerdings nicht finden konnte. Also setzte er sich auf Oskars Bank, um auf ihn zu warten und beobachtete andere Obdachlose, wie sie mit ihren besten Freunden durch den Park streiften. In Momenten wie diesen hasste Mick seinen ehemaligen Ruf, gefährlich zu sein. Denn niemand wollte etwas mit den Schlägern zu tun haben, zum einen, um Stress zu vermeiden, zum anderen, um später, wenn sich denn jemals die Gelegenheit bot, bessere Chancen im Beruf zu haben. Denn wer verbaute sich schon gerne freiwillig die eigene Zukunft? Mick begann plötzlich zu lachen, als ihm klar wurde, wie einsam und hoffnungslos seine Zukunft aussah, und er wurde mehr als nur einmal von dem ein oder anderen Dealer, die ständig Gras verkaufen wollten, angesehen und angesprochen. Diese wehrte er immer wieder ab und schickte sie weg, nachdem aber einer von ihnen ziemlich hartnäckig blieb, ging er irgendwann, denn ihm wurde auch klar, dass Oskar nicht mehr kommen würde. Er machte sich Sorgen um den Alten, versuchte aber, das Ganze zu verdrängen, denn letztendlich kämpfte hier jeder für sich, ganz egal, wie hilfreich und schön Freundschaften sein mochten, ganz egal, wie oft und sehr Mick sich manchmal einen besten Freund wünschte, er wusste, dass er das nicht lange durchziehen würde.

Mick lief eine ganze Weile durch die Gegend und war dabei so in Gedanken gesunken, dass er stolperte. Fluchend drehte er sich um, denn auch, wenn er im Fall nicht erkannte, was genau es war, wusste er, dass er das Etwas, über das er gestolpert war, eigentlich nicht übersehen konnte, denn es war zu groß, um nicht gesehen zu werden. Als er sah, was dort am Boden lag, ließ er einen kurzen Schreckensschrei von sich und betete inständig, dass er sich irrte. Schnell rannte er um den Körper herum, der sich nicht regte und erkannte schockiert, dass dieser Körper Oskars war. Hektisch kniete er sich nieder, suchte Oskars Puls und verlor bereits die Hoffnung, als er merkte, wie kalt der Alte war. Mick schluckte, als ihm bewusst wurde, dass Oskar tot war. Gerade, als er sich heimlich davon schleichen und die Bilder wieder verdrängen wollte, bemerkte er, dass in Oskars Arm eine Spritze steckte und zwischen den toten Fingern ein Zettel war. Vorsichtig zog er den Zettel hervor und las ihn durch. Vieles war durchgestrichen oder unlesbar, aber das, was Mick entziffern konnte, war, dass Oskar sich bei „seinem guten Jungen“, also ihm, entschuldigte und ihm viel Glück wünschte, von der Straße wegzukommen. Mick zerknüllte den Zettel, presste erst die Lippen aufeinander und kämpfte gegen die Tränen, die in ihm aufstiegen, an, dann schrie er wild durch die Gegend. Er schrie und schrie, bis er das Gefühl hatte, sich heiser geschrien zu haben.

Es überraschte Mick, aber es dauerte tatsächlich drei Wochen, bis er etwas weniger an Oskar dachte. Denn letztendlich war der Alte der einzige Freund, den er gehabt hatte. In diesen drei Wochen traf Mick öfter auf Kim als je zuvor, ließ ihn oder sie aber links liegen, immerhin hat der Zwanzigjährige andere Probleme.
Irgendwann stolperte Mick über ein Mädchen, das völlig verheult und verzweifelt unter einer Brücke saß. Seit Oskars Tod hatte er beschlossen, sich um Leute, die er nicht kannte, mehr zu kümmern, vielleicht fand er dadurch mehr Freunde – oder besser gesagt neue. Darum ließ er sich neben das Mädchen fallen und für eine Weile saßen die beiden nebeneinander, ohne ein Wort zu sagen. Ihm war es beinahe peinlich, die Fremde anzusehen, gleichzeitig kam es ihm seltsam vor, einfach tatenlos rumzusitzen. Dennoch tat er nichts und warf erst einen gründlicheren Blick auf sie, als sie sich beruhigt hatte. Nachdem sie ihm kurz und knapp ihren Namen, ihre aktuelle und vorherige Situation verraten hatte, nickte Mick langsam. „Und…jetzt musst du hier bleiben, weil dein Alter kein Plastikpüppchen will?“, fasste er noch mal kurz zusammen, einfach, um ihr zu verdeutlichen, dass er ihrem Vater zustimmte. Lynn, so hatte sich das Mädchen vorgestellt, schnaubte nur, Mick deutete das als Ja. Wieder saßen die beiden schweigend nebeneinander. Nach einer Weile rappelte Mick sich auf und fragte: „Hunger?“ Lynn nickte nur und er grinste, dann griff er ungefragt nach ihrer Hand, zog das Mädchen hoch und anschließend hinter sich her. Der junge Mann ignorierte immer wieder ihre Fragen – „Wo gehst du hin?“, „Was hast du vor?“, „Kannst du mir jetzt mal bitte antworten?!“ – und blieb dann plötzlich abrupt stehen. So abrupt, dass Lynn mit vollem Tempo in ihn hineinrannte. „Pass auf, ich zeig dir jetzt, wie man in dieser Szene an Essen kommt. Du musst aber die Fresse halten, ist nämlich nicht ganz legal, kapiert?“, sagte er dann eindringlich und es war eher ein Befehl als eine Frage. Verunsichert nickte Lynn, die nun ein wenig Angst bekam. Mit rasendem Herzen beobachtete sie ihn dabei, wie er sich zu den Containern schlich, einen von ihnen öffnete, ein wenig darin rumwühlte und dann einige Dinge daraus entnahm. Als er damit fertig war, rannte er davon und kam schlitternd vor Lynn zum Stehen. Keuchend ließ er ein „Renn. Schnell!“ von sich, dann rannte er weiter. Das Mädchen war zwar immer noch verwirrt, aber gleichzeitig so verängstigt, dass sie einfach tat, was Mick von ihr verlangte.

Nach ein paar Minuten, die Lynn wie eine Ewigkeit vorkamen, hielten die beiden an. „Was zur Hölle war das?“, rief sie aufgebracht, Mick hingegen grinste. „Dumpstern.“, dann fügte er ernst hinzu: „Hör mal, Kleine, nur so wirst du hier überleben.“ Lynn schnaubte. „Ich rühr den Müll nicht an“, meinte sie dann verächtlich und fühlte sich gekränkt, als sie Micks Lachen hörte. Noch während sie demonstrativ ein paar Schritte von den geklauten Lebensmitteln machte, biss er genüsslich in einen Apfel. „Hey, komm schon. Das Zeug ist noch frisch. Die werfen das nur wegen weg, weil hier und da ´ne kleine Delle ist oder in ein paar Tage das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Das ist trotzdem noch essbar. Und glaub mir, ich ess’ lieber Illegales und riskiere, in den Knast zu wandern, wenn ich oft genug erwischt werde. Wahrscheinlich ist es da sogar besser als hier.“, meinte er anschließend und versuchte, irgendwie tröstend zu klingend. Lynn jedoch ignorierte ihn. Mick kümmerte das nicht besonders, aß deshalb weiterhin seinen Apfel und beobachtete amüsiert, wie Lynn ihn wütend anstarrte. Irgendwann platzte sie heraus: „Wie kannst du diesen…Dreck auch nur anrühren? Das ist ekelhaft und da sind bestimmt ganz irgendwelche Viren drin. Wahrscheinlich verrecken Leute wie du gar nicht an Drogen sondern an so einem Dreck!“ Perplex starrte Mick sie an, dann lachte er nur noch lauter. „Dieser ‚Dreck’, wie du ihn nennst, hält dich am Leben und du gehörst auch zu ‚Leuten wie ich’, meine Liebe. Vergiss das nicht.“ Jetzt war Lynn an der Reihe, ihn anzustarren. „Ich werde niemals zu…euch gehören. Niemals.“ Mick grinste, weil er in Lynn genau die Person erkannte, die er selbst vor Jahren war: Das Verleugnen, dass man nun auch auf der Straße lebte, dass man auch vieles tun würde, das nicht ganz legal war, dass man Nacht für Nacht, Tag für Tag nicht mehr das Leben haben würde, das man hatte und man ein Leben wie dieses niemals komplett hinter sich lassen konnte.
 Oft genug traf Mick auf Leute, mit denen er früher einigermaßen gut ausgekommen war, die jetzt ein scheinbar normales Leben führten. Trotzdem zog es diese Leute immer wieder dort hin, wo sie früher den Großteil ihres Straßenlebens verbracht hatten. Von ein paar hörte er auch, dass sie manche Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Dumpstern, nicht mehr ablegen konnten. Ein Leben wie dieses schien auch das spätere, bessere Leben wohl auf immer zu beeinflussen und irgendwie machte das ihm Angst.
Genau das erzählte Mick ihr, aber Lynn leugnete auch das. „Wenn man sein halbes Leben auf dem Asphalt verbringt, dann vielleicht. Aber ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Das ist was anderes.“, meinte sie nur schnippisch. Mick senkte den Kopf, um sein Grinsen zu verstecken, denn ihm kam Lynns Reaktion immer lächerlicher vor. „Was?“, schnauzte das Mädchen. „Hör mal, Plastikpuppe, mit so `ner Einstellung wirst du nicht weit kommen. In ein paar Tagen wirst du verprügelt und mit blauen Flecken und gebrochenen Knochen auf dem Boden liegen. So läuft das hier. Dann war’s das mit deiner ach-so-tollen Schönheit, dein falsches Näschen ist im Eimer und das Geld verschwendet. Ist es dir das wert? Willst du deine gekaufte Schönheit wirklich riskieren?“, versuchte Mick, seiner neuen Bekanntschaft klarzumachen, dass das Leben auf der Straße härter war, als es schien und Schönheit zerbrechlich war – im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man es auf ihre Knochen bezog. Lynn biss sich auf ihre Lippe und kaute so heftig darauf herum, dass Mick für einen Moment Angst hatte, dass die Hyaluronsäure auslaufen könnte. Plötzlich, ohne eine Vorwarnung, drehte Lynn sich um und lief davon. Ihn verwirrte das so sehr, dass einfach nur „Lynn?“ rief, jedoch keine Anstalten machte, ihr hinterherzulaufen. Zumindest, bis er bemerkte, in welche Richtung sie lief. „Scheiße, Lynn, was machst du denn?“, fluchte er lauthals und stürmte ihr hinterher. Er erwischte sie, als sie auf dem Gehsteig balancierte wie ein kleines Kind. „Was zur Hölle tust du da?“, schrie er und packte sie am Arm. Lynn erschreckte sich so sehr, dass sie aufschrie und sich wehrte. Sie versuchte so lange, sich loszureißen, bis Mick aufgab und sie ruckartig losließ. Da Lynn jedoch immer noch mit ihren Arm hin und herschlenkerte, wurde sie nach hinten geschleudert und wäre beinahe angefahren worden, hätte das Auto nicht hupend angehalten. „Scheiße“, fluchte das Mädchen leise und wischte sich verstohlen eine Träne weg, aber Mick sah es trotzdem. Besorgt nahm er sie in den Arm und zog sie gleichzeitig von der Straße weg. „Hey, Kleine. Alles okay. Ich war ein Arsch, ja, aber deswegen musst du doch nicht gleich so ausflippen“, murmelte er beruhigend und fragte sich, warum er eigentlich so Probleme hatte, Freundschaften zu knüpfen, denn wenn er genauer darüber nachdachte, war er doch ziemlich sozial. Lynn bebte und begann, zu weinen und zu schluchzen. Immer wieder wiederholte sie „Scheiße“ und „Wieso?“. Mick hätte am liebsten nachgefragt, dachte aber, er müsse ihr erst ein wenig Zeit geben. Sie würde schon reden, wenn sie reden wollte. Und das tat sie dann auch. Sie erzählte, dass sie unglücklich war, als sie hässlich war und dachte, dass ihre Schönheit, egal, ob sie gekauft war oder nicht, sie glücklicher machen würde und jetzt sei sie hier gelandet, auf der Straße und fast noch unglücklicher. „Ich hab echt keinen Bock mehr, immer enttäuscht zu werden, verstehst du?“, schloss sie und schniefte. Mick nickte langsam und strich ihr, so, wie er es die ganze Zeit getan hatte, beruhigend über den Rücken. „Egal, wie sehr dich das hier ankotzt…Es ist kein Grund, vor ein Auto zu rennen“, murmelte er vor sich hin, wusste aber nicht, ob Lynn ihn hörte. Wieder schwiegen beiden und irgendwann, inzwischen war es schon dunkel, stellte Mick fest, dass sie eingeschlafen war. Er zog seine Jacke aus und schob sie unter ihren Kopf, dann zog er los und suchte ein paar Decken für sich und das Mädchen.
Als er zurückkam, wachte Lynn gerade wieder auf. „Wo warst du?“, brummelte sie verschlafen und verwirrt. „Und wieso ist mir so verdammt kalt?“ „Ich war weg. Hab und hier da ein paar Decken und zwei Schlafsäcke mitgehen lassen, damit uns nicht so ‚verdammt kalt’ ist“, antwortete Mick leise, reichte ihr einen der Schlafsäcke und ein paar Decken. Den Rest behielt er für sich. Anschließend legte er sich neben sie und kurz darauf schliefen beide ein.
Am nächsten Morgen war Lynn weg und Mick brauchte einen Moment, um das zu realisieren. Erschrocken sprang er auf, denn er hatte sie in dieser kurzen Zeit bereits ins Herz geschlossen, auch, wenn ihm das ein wenig missfiel. Das erste, was ihm einfiel, wo sie sein könnte, war die Straße, an der sie gestern so aufgelöst war – und dort fand er sie auch. Wieder balancierte sie zwischen Gehweg und Straße und wieder beunruhigte Mick dieses Bild. Entsetzt brüllte er ihren Namen und irgendwie schien sich das alles zu wiederzuholen: Sie erschreckte sich, stolperte auf die Straße. Der Unterschied war nur der, dass das Auto dieses Mal nicht bremsen konnte und sie erwischte. Mick brüllte wieder ihren Namen, dieses Mal voller Entsetzen.

Als Lynn ihren Namen hörte, fühlte sie sich ertappt und erschreckte, sie stolperte und das einzige, was sie sah, war das Auto, das auf sie zuraste. Alles ging schnell, so schnell, dass sie es nur noch schemenhaft wahrnahm. Wieder hörte sie ihren Namen, aber es war ihr egal. Sie hatte Schmerzen, was kümmerte sie da schon Mick?

Noch Tage später schmerzte ihr ganzes Gesicht und als sie es irgendwann einmal im Spiegel sah, begann sie, zu weinen. Sie hatte auf Krankenwagen verzichtet, war geflohen. Mick hatte sie auch nicht mehr gesehen und bisher auf den Blick in den Spiegel gemieden. Aber als Lynn jetzt die hässliche Fratze sah, wusste sie, dass ihr Handeln falsch gewesen war. Von Anfang an. Die Operationen waren verschwendetes Geld, genauso wie der Streit mit ihren Eltern, die Bekanntschaft zu Mick. Sie beschloss, heimzukehren.
Als sie vor der Tür stand, raste ihr Herz und brach in Tränen aus, als ihr Vater sie mit „Wie siehst du denn aus? Komm rein!“ begrüßte. Verwirrt sah sie ihn an. „Wie bitte? Kein Geschrei? Kein ‚Verschwinde!’?“, schniefte sie. Ihr Vater lachte. „Ich bitte dich. Von deiner falschen Schönheit scheint ja nichts mehr da zu sein“, grinste er und konnte seinen Blick nicht von ihrer Nase wenden. Lynn starrte ihn an. „Wie bitte!?“, wiederholte sie. Dann fing sie sich, lächelte ihn an, während sie daran dachte, was für ein Arschloch ihr Vater doch war und betrat dann das Haus, in dem sie freudig von ihrer Mutter begrüßt wurde.
Sie wusste, sie musste nicht mehr auf der Straße leben. Sie suchte noch oft nach Mick, konnte ihn aber nicht finden.

Mick bekam die Bilder von Lynns Unfall – er hätte Lynn beinahe schon als Freundin bezeichnet – nicht mehr aus dem Kopf und versuchte, sie mit Drogen und Alkohol zu verdrängen. Erfolglos. Irgendwann akzeptierte er es und versuchte, davon loszukommen, denn inzwischen war daraus eine Sucht geworden. Auch daran scheiterte er, mehrmals. Irgendwann gab er auf.
 Sein Dealer fand ihn eines Tages mit einer Überdosis Heroin im Blut und einem Zettel, auf dem „Es tut mir leid, Oskar“ stand.

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