Montag, 9. März 2015

Andere Menschen

Das Klackern der Hufe beruhigte mich. Eben war ich noch sauer gewesen, auf meine Mutter. Nur, weil sie nicht wollte, dass ich auszog und ich sie „alleine“ ließ.
 Als sie mir das gesagt hatte, hatte ich nur bitter gelacht. Sie? Alleine? War mit einem Lover alleine? Wohl kaum. Dass der Typ der Grund war, warum ich ausziehen wollte, verriet ich ihr nicht, aber ich war mir sicher, dass sie das auch so wusste. Sie hatte noch ein wenig rumgeschrien, wie undankbar und egoistisch ich sei. Meine Frage - „Undankbar? Wofür denn bitte?“ – hatte sie dabei geflissentlich ignoriert. Daraufhin war ich einfach abgehauen. 
Ich war froh, dass sie nicht im Traum daran denken würde, dass ich jetzt Voltigieren ging. Die Neulinge starrten mich an, als ich meiner Leidenschaft nachging und als dann ein kleines Mädchen, das ich auf circa zehn Jahre schätzte, sagte: „Du bist gar nicht dran!“, lachte ich sie einfach nur. „Ich pfeif auf die Trainingszeiten“, ließ ich von mir hören. Sicher war ich mir nicht, aber ich glaubte, Bewunderung in den Augen des Mädchens aufblitzen zu sehen. 
 Meine Mutter wäre wohl nicht stolz auf mich, wenn sie wüsste, welche eigentliche Einstellung ich hatte, sobald ich mein Zuhause verließ. Dass ich eher gleichgültig durch die Gegend lief, war ihr bewusst, aber wie sehr ich dabei über die Stränge schlug, hatte sie bisher nicht erfahren. Was vermutlich auch besser so war. Ich hatte diese Frau wahrscheinlich noch nie besonders stolz gemacht. Allerdings beruhte das auf Gegenseitigkeit. Sie war mir nie ein gutes Vorbild gewesen, das war mir allerdings in der dritten Klasse klargeworden und da war es meiner Meinung nach schon zu spät.

„Wie alt bist du?“, fragte die Kleine und lief mir hinterher. „Siebzehn“, meinte ich nur und legte einen Zahn zu. Ich genoss die Aufmerksamkeit, wollte aber prüfen, wie weit ich es treiben konnte. Mir war bewusst, dass ich oft übertrieb, aber ich wusste, dass ich nicht nur an meiner Schule der „verbotene Schönling“ war. Auch, wenn das in meinen Augen nicht besonders viel Sinn machte. Denn es gab genug, die wesentlich besser aussahen als ich, ich fand, ich war nur Durchschnitt. Oder war ich einfach nur so beliebt, weil ich diese Gleichgültigkeit förmlich schrie? Es war mir egal. Ich hatte mir dieses überhebliche Verhalten auf jeden Fall angewöhnt und wurde es nun nicht mehr los. Egal, Grenzen austesten schadete nie. Das Mädchen lief mir immer noch hinterher. „Hast du eine Freundin?“, war ihre nächste Frage. Ich blieb stehen. „Was?“, erwiderte ich verwirrt. „Ich hab gefragt, ob du ´ne Freundin hast!“, wiederholte sie und wirkte fast ein wenig genervt. Lauthals begann ich zu lachen. „Meinst du nicht, dass du ein wenig zu…jung für mich bist?“ „Wer sagt denn, dass ich deine Freundin werden will, he?“, entgegnete sie frech und ich grinste. „Ach, wer denn dann?“, erkundigte ich mich neugierig und gleichzeitig versuchte ich, dabei cool zu bleiben. „Meine Schwester zum Beispiel“, grinste nun auch die Kleine und drückte mir ein Bild in die Hand. Dann rannte sie davon. Verdutzt sah ich ihr hinterher, kümmerte mich aber dann nicht weiter darum. Ich warf einen Blick auf das Bild und stöhnte. „Oh Gott, bitte nicht!“, murmelte ich, steckte das Bild in die Tasche und kümmerte mich anschließend um das Pferd.
Als ich fertig war und mich gerade auf mein Fahrrad schwingen wollte, fiel das Bild aus meiner Tasche. Ich hob es auf und grinste selbstgefällig, als ich Melina darauf erkannte. Braune Locken, grünblaue Augen, unscheinbar und langweilig. Sie traute sich nicht mal, in meiner Gegenwart den Mund aufzumachen, es wunderte mich also nicht, dass sie ihre kleine Schwester losschickte, damit sie bessere Chancen hatte. Mich beeindruckte das allerdings kein bisschen, es schreckte mich eher ab. Ich zerknüllte das Bild und warf es achtlos auf den Boden. Dann fuhr ich davon.

Je näher ich meinem Zuhause kam, desto angepisster wurde ich, das Voltigieren hatte mich nur für eine Weile beruhigen können. Je angepisster ich wurde, desto weniger achtete ich auf die Verkehrsregeln. Dabei hätte ich schon den einen oder anderen Unfall gebaut, hätte ich nicht so schnell reagiert. 
Dieses Mal sah ich das Auto zu spät. Ich bremste zwar, dabei bockte mein Fahrrad auf und ich hatte das Gefühl, wie in einem Comic über den Lenker zu fliegen. Nur, dass es schmerzhafter war und dass mein Fuß am Lenker hängen blieb und das Auto in mich hinein fuhr. Irgendwas knackte und auch, wenn ich nicht wusste, was es war, war ich mir sicher, dass es an meinem Körper war. Alles tat weh, sodass ich nicht mal mutmaßen konnte, was die Quelle des Knackens war. Der Autofahrer war inzwischen ausgestiegen und rief entsetzt „Gott, Junge, was war das denn?!“, dann zückte er sein Handy und rief einen Krankenwagen.


Ich bekam nicht viel mit, zu sehr konzentrierte ich mich, einfach nur über meine Schmerzen zu jammern, aber als der Arzt fragte „Machst du irgendeinen Sport?“, begann mein Herz zu rasen. „Ja“, sagte ich gedehnt und beinahe ein wenig ängstlich. „Irgendwas, was in Richtung Turnen geht? Denn das wäre das einzige, was du nicht mehr tun könntest, weil…“ Länger hörte ich nicht mehr zu. Ich wollte gar nicht wissen, was genau in mir kaputt gegangen war und mir jetzt das Einzige, das mich wieder runter brachte, wenn ich sauer war, genommen hatte. Ich bekam nur gerade noch mit, dass ich jeden möglichen Sport machen könnte, nur eben nichts „turnerisches“. Wie betäubt schüttelte ich dem Arzt die Hand und ging dann. Ich machte keinen weiteren Termin aus, interessierte mich für keine Physiotherapie. Mir war alles egal, denn ich fühlte mich, als ob man mir mein Herz herausgerissen hatte. 
Kaum war ich draußen, brüllte ich und trat frustriert gegen eine Mülltonne. Und auch, wenn es mir peinlich war, anschließend weinte ich. Zum einen, weil ich nun nichts mehr hatte, das mich ablenkte, zum anderen, weil ich mich schämte und hasste, denn jetzt wusste ich, wie sich die Mädchen – und die drei Schwulen – fühlten, sobald ich sie abwies. Plötzlich wurde mir so übel, dass ich mich einfach mitten auf der Straße übergab. Ich war froh, dass ich niemanden entdeckte.


Als ich Zuhause ankam, begrüßte mich meine Mutter, bevor sie mich sah, mit: „Hat der Herr sich wieder beruhigt?“ Ich antwortete nur „Weiß nicht. Beruhigt man sich, wenn man im Krankenhaus ist, weil man einen Unfall hatte?“, woraufhin sich meine Mutter umdrehte und aufschrie. „Oh Gott“, stammelte sie immer wieder. Ich zuckte nur mit den Schultern. Interessierte es sie überhaupt? „Erzähl mir alles“, meinte sie, während sie die Hände vorm Mund zusammenschlug und sich hinsetzte. „Wie bitte? Nein. Nein, vergiss es.“, antwortete ich entsetzt über ihre plötzliche Fürsorge, die mir verdächtig gespielt vorkam. Vermutlich wollte sie einfach nur ihr Gewissen beruhigen. Jetzt war sie an der Reihe, entsetzt zu sein. Oder entsetzter, als sie bereits zu sein schien. Ich bedachte sie mit einem kurzen Blick, dann ging ich. Während meinem Abgang versuchte ich alles, Schmerzeslaute zu unterdrücken, denn mir tat immer noch alles weh.

Ein paar Tage später war ich immer noch so wütend auf meine Mutter, dass ich beschloss, einfach nicht nach Hause zu kommen. Um mir die Zeit zu vertreiben, entschied ich mich dazu, ein wenig Gegenden zu erkunden, die mir bisher unbekannt waren. Vielleicht konnte ich ja einen Ersatz für’s Voltigieren finden, aber wenn ich ehrlich war, hatte ich diesbezüglich keine großen Hoffnungen.
Mein erster Punkt auf der Liste war einer der Parks, die an meiner Schule als „Penner-Parks“ bekannt waren. Als ich den Park erreichte, setzte ich mich irgendwo unter einen Baum und beobachtete die Menschen. Bei vielen war es nicht unschwer zu erkennen, wer von ihnen von der Straße lebte und wer nicht und ich hatte beinahe Spaß daran, wenn ich daran dachte, wie viel besser ich es doch hatte. Zumindest für einen Moment, denn im nächsten Augenblick schämte ich mich dafür. Irgendwann, es mochte vielleicht eine Stunde vergangen sein, sprach mich ein junger Mann an. „Hey, Kleiner, verpiss dich. Das ist mein Platz, klar?“ Ich sah ihn an und lachte ihn knallhart aus. „Ich war hier vorher, also nerv’ nicht“, meinte ich gleichgültig und sah ihn misstrauisch an, als ich ihn grinsen sah. „Du gefällst mir“, sagte er anschließend und ließ sich neben mir nieder. „Mick“, kam es von ihm, während er mir seine Hand entgegenstreckte. Verdutzt nahm ich sie an und sagte dann: „Äh…Adam“ Mick grinste wieder. „Also, dann, Äh-Adam“, ich verdrehte die Augen, als mir klar wurde, dass das wohl einer von den Leuten war, die sich für besonders lustig hielten, „was machst du hier?“ Interessiert sah er mich. „Hatte vor ein paar Tagen `n Unfall und seitdem fuckt mich alles noch mehr ab als vorher. Und heute hatte ich keinen Bock, nach Hause zu gehen, also bin ich irgendwie hier gelandet“, fasste ich kurz zusammen und während ich dem Obdachlosen ins Gesicht sah, fiel mir auf, wie ausgemergelt, bleich und krank aussah, wie eingefallen sein Gesicht und leer der Ausdruck in seinen Augen war. Ich versuchte, meinen Schock irgendwie zu verbergen. Mick jedoch schien zu bemerken, was in mir vorging. Er lächelte irgendwie nur halb, zog dabei einen Mundwinkel hoch und entblößte ein paar schlechte Zähne, die mich aber nicht wirklich überraschten, immerhin konnte er sich nicht jeden Tag seine Beißerchen putzen. „H“, meinte er locker. „Was?“, fragte ich verwirrt. „Ich nehm’ Heroin“, erklärte der Mann mir. „Oh“, war das einzige, was ich raus brachte. Mick lachte nur. „Ja. Oh. Aber das ist okay so, echt, ich meine, was bleibt einem schon noch, wenn man hier lebt? Genau, Drogen.“ Nachdenklich sah ich ihn an und wieder einmal wurde mir bewusst, wie viel besser ich es hatte. „Wie ist das eigentlich so? Auf der Straße, mein’ ich.“, fragte ich und wurde plötzlich ernst. Mein Gegenüber sah mich nun nicht mehr an, auch entblößte er seine Zähne nicht mehr. Vielmehr sah er nun auf den Boden, rupfte vereinzelt Grashalme heraus, es schien ihm peinlich zu sein. „Du musst nicht…“, setzte ich gerade an, als er mich mit einem „Scheiße. Es ist einfach nur scheiße. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen“ unterbrach und damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Ich nickte nur. Für eine Weile schwiegen wir, bis ich seinen Magen knurren hörte. „Soll ich dir was zu Essen besorgen? Genug Kohle hab ich. Was willst du?“, war das einzige, was mir einfiel – und mich selbst überraschte. Mick lächelte, diesmal allerdings zahnlos, und sagte: „Danke, Mann, hab seit Tagen nichts Richtiges gegessen. So `ne Pizza wär’ jetzt nicht schlecht“ „Alles klar. Bin gleich wieder da“, antwortete ich und klopfte ihm auf die Schulter.
Als ich fünf Minuten später zurückkam, lag Mick zusammengekrümmt auf dem Boden. Er zitterte, versuchte, sich zu bewegen und an seinem Mund hing ein wenig Schaum. Ich schrie auf und ließ beinahe die Pizza fallen. Schnell, aber dennoch mehr oder weniger vorsichtig, warf ich sie ins Gras und versuchte verzweifelt, ihm irgendwie zu helfen. Hilflos versuchte ich, auf uns aufmerksam zu machen, als plötzlich jemand hinter mir auftauchte. „Der braucht ´n bisschen Stoff, mehr nicht.“, sagte eine Stimme, die wohl zu der Person hinter mir gehörte. Ich drehte mich um und sah einem jungen Mädchen, vielleicht dreiundzwanzig, in die Augen. „Was?“, fragte ich verwirrt. „Der braucht Heroin, Mann. Pass auf, ich geb’ dir ´n bisschen was und du zahlst mir die Kohle, okay?“, meinte sie und auch, wenn mir dieses Dealen – denn dass vor mir eine Dealerin stand, war auch mir klar – nicht gefiel, wollte ich ihm helfen, also machte ich eine Ausnahme und wir tauschten heimlich Geld gegen Droge. „Und jetzt?“, fragte ich hilflos. Das Mädchen lachte. „Junge, du musst noch ´ne Menge lernen, was? Also, eigentlich bräuchte der ´n Druck, aber es muss schnell gehen und wenn du Glück hast, reicht’s, wenn der ´n kleinen Teil schnieft. Ich mach das mal, bevor du das teure Zeug irgendwie ruinierst oder so, am Ende verreckt der arme Kerl dran“, sagte sie dann unbeirrt, nahm mir die Droge wieder aus der Hand und half Mick, das Zeug irgendwie durch seine Nase zu befördern, zumindest vermutete ich das, denn hinsehen wollte ich nicht. Irgendwann tippte mir das Mädchen auf die Schulter. „Fertig. Und jetzt gib’ ihm mal was von der Pizza ab, bevor die kalt wird“, grinste sie und wollte gehen. „Hey, warte!“, rief ich. „Wie heißt du?“, fragte ich, nachdem sie sich umgedreht hatte. „Stella“, sie lächelte. Dann lief sie noch mal zurück, nahm den Pizzakarton hoch, schrieb etwas auf den Deckel, drückte mir das Pappding in die Hand und ging mit einem „Bis dann“. Verwirrt sah ich ihr hinterher. „Danke“, sagte Mick, dem es inzwischen wieder wesentlich besser ging, grinsend und nahm mir die Pizza aus der Hand. Seufzend ließ er sich wieder auf den Boden fallen, riss hastig ein Stück Pizza aus der Schachtel und biss gierig hinein. „Hmm“, machte er, dann sagte er kauend zu mir: „Mann, du hast mir echt den Tag gerettet. Stoff besorgt, Pizza besorgt, Langeweile vertrieben. Hast was gut bei mir.“ Ich sah ihn nur immer noch verwirrt. „Setz dich endlich wieder hin, alles okay, Mann“ Nun war ich an der Reihe, mich seufzend auf den Boden zu setzen. „Was war das?“, fragte ich, nachdem ich ihm ein paar Minuten dabei zugesehen hatte, wie er die Pizza in sich reinstopfte, als hinge sein Leben davon ab. „Turkey“, nuschelte er. „Was?“, fragte ich nach und äffte anschließend grinsend sämtliche Lehrer, die ich je gehabt hatte, nach: „Ich hab dich akustisch nicht verstanden“ Mick grinste zurück, schluckte den Pizzabrei, der vorher in seinem Mund war, hinunter und wiederholte dann: „Turkey. Die Wirkung vom Stoff hat nachgelassen und dann kommt man auf Turkey. Will echt nicht wissen, wie sich ´n Entzug anfühlt“ Die Tatsache, wie gleichgültig er das sagte, machte mir irgendwie Angst. Trotzdem nickte ich nur. Mick biss in ein weiteres Pizzastück – das sechste und das innerhalb von 5 Minuten – und nachdem er auch den Bissen, der aus der Hälfte des Pizzastückes bestand, heruntergeschluckt hatte, grinste er – mir fiel auf, dass er, trotz seines anscheinend beschissenen Lebens viel grinste – und meinte: „Die Kleine war süß. `N bisschen jung für mich, aber zu dir würde sie passen. Was hat sie dir denn auf den Deckel geschrieben?“ Neugierig klappte er den Pizzakarton, nachdem er sich Pizzastück Nummer sieben herausgenommen hatte, zu und pfiff durch die Zähne. „Ihre Nummer. Die ist wohl eine von denen, die nicht lang rumfackeln“ Er lachte. Ich nickte wieder und schwieg weiterhin nachdenklich. „Hey, Kumpel, sag doch mal was“, sagte Mick zwischen zwei Bissen. „Die war höchstens dreiundzwanzig. Warum vertickt die schon Drogen? Ich meine, so alt ist da ja noch nicht und hat“, murmelte ich. „Das ist deine einzige Sorge?“, wunderte Mick sich. „Ich geh fast drauf“, ich war mich nicht sicher, ob man an Entzugserscheinungen sterben konnte, aber ich glaubte ich ihm, einfach, weil er es wohl wissen musste, immerhin war er von uns beiden der Drogenabhängige, „und du wunderst dich, warum ´ne dreiundzwanzigjährige Drogen vertickt? Deine Sorgen hätte ich gern, ehrlich!“, fuhr er kopfschüttelnd fort. Ich brummte nur.
Irgendwann, es dämmerte langsam, stand Mick, mit dem ich mich eine Weile noch über alles Mögliche unterhalten hatte, auf und sagte: „War nett, dich kennengelernt zu haben. Aber ich muss jetzt gehen“, er grinste wieder mal, „und mir mehr Stoff besorgen. Keine Ahnung, ob du es noch mal verkraftest, mich auf Turkey zu sehen. Was auch immer du jetzt vorhast: Viel Spaß dabei“ Dann nickte er mir zu und verschwand, ohne auch nur eine Antwort von mir abzuwarten. Irritiert sah ich ihm hinterher, saß noch ein paar Minuten herum und als es immer dunkler wurde, beschloss ich, wieder nach Hause zu gehen.

Den Pizzakarton nahm ich mit und am nächsten Tag schrieb ich Stella eine Nachricht, „Hey, du hast mir gestern deine Nummer auf meinen Pizzakarton geschrieben und eigentlich wollte ich nur fragen, was du damit bezwecken wolltest. Adam“ Stella schien eine von den Personen zu sein, die schnell antworteten, denn ihre Antwort kam innerhalb von ein paar Minuten: „Hey Adam. Eigentlich dachte ich, wir könnten uns mal treffen?? Stella“ Meine Antwort war kurz und simpel, bestand nur aus einem „Klar gerne“ und schon am selben Tag trafen wir uns. Diesmal war der Treffpunkt allerdings vor dem Park, gegen 20 Uhr.

Als Stella mir entgegen kam, fielen mir viele Dinge auf, die mir am Tag zuvor gar nicht aufgefallen waren. Das Erste, was mir ins Auge stach, war, dass sie unglaublich klein war und ihre Haare ziemlich lang. Mir war nicht ganz klar, warum, aber als mir das auffiel, musste ich lachen und zwar so heftig, dass Stella mich verwirrt mit ihren großen Augen ansah, fragte „Alles okay? Hab ich irgendwo ´n Fleck oder so?“ und hektisch an sich heruntersah und nach vermeintlichen Flecken suchte. „Alles okay. Du hast keinen Fleck. Vergiss es einfach wieder“, winkte ich ab, immer noch breit grinsend. Stella zuckte mit den Schultern. „Na, wenn du meinst.“ Für einen Moment standen wir uns ein wenig verlegen gegenüber, dann sagte sie: „Komm, ich zeig dir mal was.“ „Was denn?“, fragte ich ein wenig beunruhigt, denn immerhin hatte ich sie beim Dealen kennengelernt. „Oh, das verrat ich dir nicht“, lächelte sie verschmitzt. Immer noch ein bisschen misstrauisch folgte ich ihr und als wir schließlich an einer Disco ankamen, war ich beruhigt – bis Stella sich davor stellte und hier und da ein paar Leute ansprach und ihnen immer wieder kleinen Tüten mit Pillen und anderem Zeug gab, während sie unauffällig das Geld, das die Fremden ihr gaben, einsteckte. Irgendwann, als keiner mehr zu ihr kam, fuhr ich sie an: „Sag mal, spinnst du? Du nimmst mich zum Dealen mit!? Du bist höchstens dreiundzwanzig, also noch total jung, fragt da denn keiner nach!?“ Seelenruhig sah sie mir ins Gesicht. „Ich bin neunundzwanzig, Kleiner. Und in dem Geschäft fragt keiner nach dem Alter, sondern nur nach Preis und Ware. Merk dir das.“, meinte sie dann gelassen. Ich starrte sie an. „Neunundzwanzig?“, wiederholte ich ungläubig und Stella nickte. Ich schluckte, dann fing ich mich wieder und fragte: „Wieso hast du mich mitgenommen?“ Stella lachte. „Du hast mit Mick zu tun gehabt, ich dachte, du suchst das Abenteuer und ich war der Meinung, dass Klauen dir zu langweilig geworden ist“, grinste sie. „Abenteuer? Klauen? Langweilig? Wovon redest du bitte!?“, ließ ich entsetzt von mir hören. Stella lachte wieder. „Klar, was denn sonst?“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich wieder nach. „Mick war mal einer der gefährlichsten Straßenschläger…?“, erwiderte Stella und plötzlich wirkte sie unsicher. Erstaunt sah ich sie an, dann lachte ich. „Wie bitte? Nie im Leben!“ Stella schüttelte den Kopf. „Doch, das ist wirklich so, frag ihn doch selbst!“ „Na, wenn du das sagst, wird das wohl stimmen“, grinste ich und glaubte ihr kein Wort. Ihre Laune war wohl nicht mehr ganz so gut, sie kickte missmutig ein kleines Steinchen hin und her und ließ den Kopf gesenkt. Plötzlich hob sie den Kopf und ihre Augen leuchteten. „Ich hab ´ne viel bessere Idee!“, rief sie begeistert, packte mich an der Hand und zog mich mit. Wortlos und ohne Widerspruch ließ ich mich mitziehen, während ich, arschlochmäßig, wie ich eben war, daran dachte, dass sie viel älter war als ich und sich trotzdem wie ein kleines Kind benahm. Ich fühlte mich gut, erwachsen, toll – wie sehr ich dieses Gefühl heute schon vermisst hatte.

Ich beobachtete mit immer größeren Unbehagen, wie sich die Gegend änderte. Aus der Gegend, in der die Disco, die noch verhältnismäßig seriös wirkte, wurde ein Ort, der ziemlich verrucht aussah. „Stella, wo zur Hölle sind wir hier?“, schnauzte ich sie an. Sie strahlte mich an. „Bei meiner besten Kundschaft: Auf dem Strich!“ Mir entgleisten sämtliche Gesichtszüge. „Bitte wo!?“, fragte ich entsetzt. „Auf dem Strich!“, wiederholte sie fröhlich und klang dabei so, als sei dieser Ort der normalste der Welt. An die Stirn tippend wollte ich mich umdrehen und gehen, aber Stella hielt mich fest. „Bleib! Ich will dir jemanden vorstellen!“, quengelte sie und ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, denn auch, wenn ich jetzt wusste, dass Stella älter war als ich, benahm sie sich definitiv nicht so und war damit so, wie die meisten Mädchen meiner Schule, die für mich schwärmten. Ich war also völlig in meinem Element. „Okay“, gab ich nach. Vor Freude quietschend zog Stella mich hinter ihr her und rief dann irgendwann: „Hope! Hope!“ Verwirrt sah ich mich um und hatte das Gefühl, mir hätte jemand in den Magen geschlagen, als mir eine Prostituierte entgegenkam. Ich riss an Stellas Schulter und zischte: „Bist du bescheuert? Das kannst du vergessen. Nie im Leben schlaf’ ich mit ´ner Prostituierten!“ Stella sah mich verwundert an, dann begann sie zu lachen. „Oh, das war nicht meine Absicht. Ich wollte euch einfach nur bekannt machen. Der Strich allein ist schon ein Abenteuer für sich!“ Erleichtert stieß ich Luft aus, dann wandte ich mich an die junge Frau, die inzwischen zu uns gekommen war. „Hallo, ich bin Adam“, sagte ich, reichte ihr meine Hand und lächelte sie an. Sie lächelte zurück, nahm meine Hand ein wenig verunsichert entgegen und entgegnete knapp und ohne jegliche Emotionen: „Hope“ Während ich die Hand sinken ließ, schnauze Hope Stella an: „Hast du sie eigentlich noch alle? Ich schlafe nicht mit Leuten, die du mir anschleppst!“ Stella aber seufzte einfach nur. „Liebes, ich will doch gar nicht, dass der zum Freier mutiert. Ich wollte ihm einfach nur den Strich zeigen, ich glaube nämlich, dem wird langsam langweilig.“ Hope nickte nur, aber es war deutlich im Licht der Straßenlaterne, unter der wir standen, zu erkennen, dass sie ihr nicht glaubte. „Wie auch immer, ich muss jetzt gehen. Miles wartet.“, murmelte sie, drehte sich um und ging, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen. „Miles?“, fragte ich neugierig. „Ihr Freund. Oder Ex-Freund? Keine Ahnung. Ist so ´ne On-Off-Beziehung.“, Stella zuckte mit den Schultern. Dann fuhr sie fort: „Sag mal, hast du eigentlich ´ne Freundin? Nur so aus reiner Neugierde.“ Ich schüttelte den Kopf. „Was ist mit dir? Hast du ´n Freund?“ Stella winkte ab. „Auch nicht. Aber ´ne Freundin.“ Das überraschte mich so sehr, dass ich einfach nur „Oh“ sagte und in Stella grinsendes Gesicht blickte. Wir schwiegen wieder eine Weile, ein wenig unbeholfen und ratlos, was wir jetzt tun sollten. Meine Begleiterin sah sich immer wieder um, bis sie irgendwann sagte: „Hier kommt auch keiner mehr. Schade, eigentlich ist hier immer ein riesiger Ansturm.“ Ich war entsetzt darüber, wie enttäuscht sie klang. Es machte für mich Sinn, dass sie enttäuscht war, aber dass ihre Enttäuschung so groß war, überraschte und entsetzte mich dann doch. Denn immerhin bedeutete das, dass sie öfter war und wohl mehr als nur ein großes Geschäft machte – und das für sie ganz selbstverständlich zu sein schien.
Wir liefen ein Stück zusammen, bis mir die Gegend wieder bekannt vorkam, dann beschloss ich, nach Hause zu gehen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass bereits nach Mitternacht war. Also verabschiedete ich mich von Stella und wir verabredeten uns für den nächsten Tag.

Stella holte mich diesmal ab, was mir ein wenig unangenehm war, denn ich hatte ihr meine Adresse gar nicht gegeben. „Woher…?“, setzte ich an, wurde aber von ihr unterbrochen: „Dealergeheimnis“ Ich seufzte. „Läuft bei dir alles auf’s Dealen raus?“ Stella nickte grinsend: „Klar“. Schnaubend unterdrückte ich ein Lächeln. „Was hast du heute vor?“, wechselte ich dann das Thema. „Heute stelle ich dir Miles vor.“ Für einen Moment überlegte ich, woher mir der Name bekannt vorkam, aber dann fügte sie hinzu: „Hopes Freund“ Ich nickte dankbar für diese Information.

Wir standen wieder auf dem Strich und ich wunderte mich, was ich hier sollte. „Ist Miles auch ´n Stricher?“, rutschte es mir raus. Stella lachte. „Nein. Aber er…besucht Hope oft, vielleicht können wir in diesmal vorher abpassen. Ich glaube, die beiden haben mal wieder…“, meinte sie, brach aber ab, begann wie verrückt zu winken und grinste mich an. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich war der Meinung, gewisse Parallelen zu Mick zu erkennen. „Miles, wie geht’s?“, begrüßte meine Begleiterin den jungen Mann, der jetzt vor uns stand. Miles brummte nur. „Wer ist das?“, fragte er dann schlecht gelaunt. Geschäftig und aufgeregt strahlte Stella ihn an. „Das ist Adam. Will ´n paar neue Leute kennen…“ „Will ich nicht. Sie zwingt mich“, unterbrach ich sie. Miles lachte, aber ich war mir nicht sicher, ob sein Lachen echt war. „Das kenn ich.“, er grinste, es wirkte fast so, als sei seine Laune besser, doch dann bemerkte ich, wie ein trauriger Schleier seinen Blick trübte, „Ich bin immer noch der Meinung, dass ich Hope ohne Stella gar nicht kennen gelernt hätte.“ „Gott, Miles, hör mir auf damit. Jammern bringt nichts, nur, weil Hope ´ne komplizierte Person ist!“, stöhnte Stella genervt. „Halt die Schnauze, okay?“, erwiderte Miles und klang dabei so deprimiert und demotiviert, dass ich fast Mitleid mit ihm hatte. Plötzlich schien Stella wieder einmal eine Erleuchtung zu haben: „Ich hätte da was für dich.“ Misstrauisch sah Miles sie an. „Happy Pills“, flötete die Dealerin. „Stella, vergiss es. Ich kauf dir nichts ab. Such’ dir ´n anderen Idioten, klar?“, wehrte ihr Gegenüber kopfschüttelnd ab. Enttäuscht blickte Stella ihn mit großen, runden Augen an. Auch, wenn ich sie nicht lange kannte, konnte ich mir denken, was jetzt kam. „Ich glaube, betteln bringt da nichts“, murmelte ich. Miles grinste mich anerkennend an. „Der Kleine ist gut“, nickte er mir zu und klopfte mir auf die Schulter. Dann rief er empört „Stella, lass die Scheiße. Mir Drogen unterzuschieben, macht es nicht besser!“ und machte einen Satz zurück. Stella zuckte schuldbewusst zusammen, dann weiteten sich ihre Augen erschrocken und sie fluchte leise. „Scheiße. Weg hier“, flüsterte sie, meinte dabei wohl eher sich selbst und stürmte davon. Verwirrt blickte ich zu Miles, der nur ebenso verwirrt mit den Schultern zuckte und ich beschloss, Miles stehen zu lassen Stella hinterherzulaufen.

„Verdammt noch mal, bleib doch mal stehen!“, brüllte ich, als wir gefühlte zehn Minuten gerannt waren, inzwischen hatte ich sie eingeholt. „Was ist denn los, Mann?“, keuchte ich, nachdem wir stehen geblieben waren. Ich verzog das Gesicht, ich hatte Seitenstechen. Stella keuchte ebenfalls. Während sie nach Luft rang, sagte sie stockend: „Die Bullen. Wenn die mich mit den Drogen erwischt hätten...“ Sie beendete ihren Satz nicht. Unsicher sah ich sie an, beobachtete, wie sich ihre Pupillen weiteten. Ich fragte mich, ob das an der Angst oder an irgendwelchen Drogen lag. Für einen Augenblick, der mich ziemlich beunruhigte, starrte sie wie gelähmt in die Ferne, dann schien sie sich zusammengerissen zu haben, griff in ihre Taschen und wühlte hektisch darin herum. „Ich scheiß auf die Kohle und verschenk den Dreck jetzt, okay? Machst du mit? Denn, wenn ich ganz ehrlich bin, so viel Angst hatte ich noch nie. Nicht mal bei `nem Horrortrip“, sagte sie dann wild entschlossen. Erleichtert sah ich sie an. „Du willst also mit dem Dealen aufhören?

Ich rannte und wieder einmal zog Stella sich hinter mir her. „Mach schon!“, drängte sie. Also legte ich einen Zahn zu, ließ ihre Hand los und ohne uns abzusprechen begann ein Wettlauf. Nicht gegeneinander. Sondern gegen die Zeit und gegen Stellas Angst. Ich war zwar der Meinung, dass sie sich das einbildete, aber Stella war fest davon überzeugt, dass die Polizei sie verfolgte. Wir stürzten in Richtung des Parks, in dem wir uns das erste Mal getroffen hatten.
„Hey, Steve!“, schrie sie, nachdem sie abgebremst hatte, und hob die Hand, während sie auf einen Mann zulief, der um die 30 war. „Brauchst du ´n bisschen Stoff?“, fragte sie ihn völlig außer Atem. Überrascht sah er sie an. „Klar. Wie viel willst du?“, lautete seine Gegenfrage. „Gar nichts. Ich will keine Kohle, ich will nur, dass du dicht hältst. Du hast das Zeug nicht von mir. Vertick’s ruhig weiter, mir egal was du damit machst, solange du mir versprichst, mich zu leugnen, klar?“ Verwirrt nickte Steve. „Okay…? Muss ich sonst noch was wissen?“ Stella lächelte ihn schief an. „Ja. Dank Adam“, sie deutete mit dem Daumen hinter ihre Schulter, denn ich stand direkt hinter ihr, „steig ich aus. Das war’s. Ich bin keine Dealerin mehr. Tu mir einen Gefallen und kümmer’ dich ein bisschen um Mick, okay? Grüß ihn von mir, ja?“ Steves Augen wurden groß. „Du…hörst auf? Ausgerechnet du, die mal gesagt hat, sie zieht das durch, bis sie eingeknastet wird?“, fragte er ungläubig nach. Sie hingegen nickte feierlich. „Man erzählt viel, aber wenn man dann wirklich beinahe in so eine Situation kommt, scheißt man auf so was, verstehst du? Sei mir nicht böse, aber ich würde das alles am liebsten noch heute hinter mir lassen und deswegen jetzt gerne schon verschwinden.“, lächelte sie bedauernd. Steve nickte nur verständnisvoll. „Okay. Dann…mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns ja mal.“ Stella bedachte ihn mit einem kurzen Blick, dann drehte sie sich um und ging. Ihr Abgang überraschte sowohl Steve als auch mich, weswegen ich ihr wie ein Hund hinterher rannte, nachdem ich Steve zögerlich „Viel Erfolg“ gewünscht hatte.

„Danke, Adam“, murmelte sie, als wir vor dem Park standen. Völlig unerwartete umarmte sie mich. Vor lauter Überraschung legte ich ein wenig unbeholfen meine Arme um sie. „Wofür?“, fragte ich schließlich. Sie löste sich ein wenig verlegen von mir. „Wenn ich dich nicht getroffen hätte, hätte ich dich nicht mit zu Miles, beziehungsweise zum Strich, mitgenommen, hätte die Polizei nicht gesehen und würde jetzt immer noch Dealen. Weißt du, als Dealer geht man ein großes Risiko ein und an manchen Tagen ist das echt belastend. Das bin ich jetzt los. Mann, ich bin dir echt dankbar dafür.“ Sie schien sich wieder gefangen zu haben und grinste mich an. „Ich würde dir gerne…“, setzte sie an. „Noch jemanden vorstellen?“, vollendete ihren Satz, „Nein, danke. Ich hab in letzter Zeit genug Leute kennen gelernt. Das reicht mir vorerst.“ Wir grinsten uns an, dann besuchten wir irgendeine Disko. Bevor wir rein gingen, sagte Stella ernst: „Ist echt komisch, mal da rein zu gehen, ohne irgendwelche Drogen in der Tasche, die man verticken will. Danke noch mal, Kleiner.“ Sie berührte meinen Arm, was mir ungewohnt vorkam, dann lächelten wir einander an und betraten den Club.


Mit Stella hatte ich noch eine Menge erlebt, hatte viele weitere Leute kennengelernt, die meiner Meinung nach aber nicht weiter erwähnenswert sind, genau wie alles andere, was ich weiterhin mit ihr erlebt hatte – bis auf die Sache mit Jana. Die Geschichte gehört hier aber nicht hin. Ich bin froh, dass es so passiert ist, wie es passiert ist, denn so hätte ich weder Stella noch andere Leute, denen es wesentlich schlechter als mir geht oder ging, kennengelernt. Und ich wäre wohl immer noch das Arschloch, das ich am Anfang der Geschichte war. 

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