Montag, 9. März 2015

Genevieve

Genevieve stützte ihre Arme auf dem Tisch ab und blickte auf Sarah herunter. „Du schuldest mir noch Geld, Schatz.“, sagte sie gelangweilt. Sarah riss die Augen auf und kramte in ihren Taschen herum. „Hier“, sagte sie und drückte ihr einen Fünf-Euro-Schein in die Hand. „Danke“, meinte Genevieve mit ihrem typisch spöttischen Lächeln und drehte sich dann um. Sarah sprang auf. „Warte, Gen!“ Genevieve verdrehte die Augen, dann wandte sie sich an das Mädchen. „Was ist denn? Und nenn mich nicht Gen, klar?“, fauchte sie. Sarah zuckte zusammen, dann sagte sie ein wenig eingeschüchtert: „Ich will mitkommen.“ Genevieve zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Von mir aus.“ Sie wusste, dass Sarah nur eines ihrer Opfer war, dass das Mädchen bald wieder nur alleine in einer Ecke sitzen und sie weiterhin bewundern würde, so war es bisher immer gewesen. Genevieve verließ, ohne sich noch mal umzudrehen, das Schulhaus und spazierte über den Schulhof und traf dort auf Lucas. Lucas war groß, zwei Jahre älter und Genevieve war davon ausgegangen, dass er schlauer wäre und nicht so gnadenlos mit sich spielen ließ, aber sie stellte bald darauf fest, dass sie falsch lag. Strahlend lief sie auf ihn zu und umarmte ihn. „Hey, Gen“, sagte Lucas und sie verkniff sich ein Lächeln, als sie die Freude in seiner Stimme bemerkte. Sie rückte ein bisschen von ihm ab, war ihm aber dennoch so nah, dass man meinen könnte, sie wären ein Paar. Sie legte ihre Hände auf seine Brust und sah zu ihm hoch, denn trotz ihrer hohen Schuhe war er etwas größer als sie. Als sie die vor Freude glitzernden Augen des Jungen bemerkte, versteckte sie ihr Lächeln nicht mehr. „Schön dich zu sehen“, sagte sie und riss ihre Augen für einen kurzen Augenblick auf, denn Lucas liebte das. „Wir sollten…“, setzte sie dann an, wurde jedoch von einem Räuspern unterbrochen. Genervt drehte sie sich um. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, knurrte sie und rollte offensichtlich und provozierend mit den Augen, als sie Sarah sah. „Sorry, hab dich vergessen. Was hältst du davon, wenn…?“, sagte sie gewohnt spöttisch und beendete ihren Satz nicht, denn Sarah wusste, dass sie störte. Niedergeschlagen drehte sie sich wortlos um und ging. Genevieve sah ihr noch einen Moment mit kraus gezogener Nase nach, dann wandte sie sich wieder an Lucas. Der jedoch sah sie erschrocken an. „Findest du nicht, dass das etwas, na ja, fies war?“ Genevieve starrte ihn an, ehe sie ihr schmerzhaft helles Lachen lachte. „Luc, ich bitte dich! Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Und es war deutlich zu sehen, dass sie gestört hat. Davon abgesehen macht es ihr nichts aus, wenn man so mit ihr umgeht.“, sagte sie und in ihrem Ton lag nicht nur Hohn, sondern auch eine gewisse Art von Verständnislosigkeit, dabei wusste sie genau, dass sie solche Dinge nicht gerade zu einem gutem Menschen machten. Aber das war ihr egal, genauso egal, wie die Tatsache, dass sie Menschen mit ihrem Handeln verletzte – das Einzige, was sie störte, war, dass ihr ihre Spielchen nicht mal Spaß machten oder ihre Langeweile vertrieben. Das war anfangs gewesen, beim den ersten zwei, drei Malen, dann wurde es ihr zu langweilig. Aufgehört hatte sie nur deshalb nicht, weil es zur Gewohnheit und zum Ruf geworden war.
Lucas sah sie irritiert an. „Aber…ich dachte, sie sei deine Freundin?“, fragte er. Genevieve bedachte ihn mit einem kurzen Blick, dann legte sie ihre flache Hand an seine Wange, bevor sie ausholte und zuschlug. Nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, starrte er sie entsetzt an. „Was war das denn?“, rief er sauer. „Das war dafür, dass du so dämlich bist.“, sagte sie schulterzuckend. Sie merkte, dass er etwas sagen wollte, ignorierte es jedoch geflissentlich und machte einfach auf dem Absatz kehrt.
Sarah sah ihr mit großen Augen entgegen, als sie das Klassenzimmer betrat. „Ich hab zufällig gesehen, was passiert ist.“, sagte sie ein wenig aufgeregt. „Na und?“, entgegnete Genevieve gleichgültig. „Wieso hast du das gemacht?“, ereiferte sich das Mädchen. „Darum?“ Genevieves Ton klang abfällig und es stellte sie irgendwie zufrieden, zu sehen, dass Sarah sich nun dumm zu fühlen schien. Sie setzte ihr spöttisches Lächeln auf, dann konzentrierte sie sich auf den Matheunterricht, der gerade begonnen hatte.

Nachmittags besuchte Genevieve Sarah. Als sie den engen Flur betrat, sah sie sich unauffällig um. Obwohl alles sehr beengend und dunkel war, gefiel es ihr irgendwie, obwohl die Dunkelheit leichte Panik in ihr auslöste. Die Dunkelheit war ihr größter Feind und sie spürte, wie die Angst in ihr sich in eine strafende Wut auf Sarah wandelte. Sie drehte sich zu ihr um und sagte gereizt: „Wieso tust du das?“ Sarah blickte sie mit einem verwirrten Ausdruck in ihren Augen, die vor Schreck, wie so oft, weit aufriss, an. „Was meinst du?“ Genevieve biss die Zähne zusammen, als sie realisierte, dass Sarah es schaffte, sie mit dieser einfachen Frage zu beruhigen. Sie schüttelte den Kopf und murmelte nur: „Nichts.“ Niemals würde sie Sarah gegenüber Schwäche zeigen oder ihr von ihren Ängsten erzählen. „Tja, dann…mein Zimmer ist oben“, sagte Sarah ein wenig betreten und deutete auf eine schmale, verwinkelte Treppe. Dann drängte sie sich unsicher an Genevieve vorbei und ging hoch, Genevieve folgte ihr.
Sie betraten das Zimmer und Genevieve wurde wütend, als sie feststellte, dass es eine exakte Kopie ihres eigenen Zimmers darstellte. Dieses Mal fühlte sie sich berechtigt, wütend auf das Mädchen zu sein. „Was soll das? Spinnst du?“, schrie sie. Sarah wollte widersprechen, aber Genevieve schrie immer weiter. „Wie kannst du es wagen? Änder’ das wieder!“ Dann stürzte sie sich auf die Porzellanblumenvase, die sie selbst so sehr liebte und warf sie auf den Boden, riss ein paar der Bücher, die so schön geordnet waren und die, was ihre Wut nur noch steigerte, genau die gleichen waren, die sie zu Hause hatte, aus den Regalen, schlug sie auf und riss nacheinander wild Seiten heraus. Danach suchte sie gezielt ihr Lieblingsbuch – Tintenherz – heraus, griff zu ihrem Feuerzeug und zündete das Buch an. Durch die Flammen hindurch sah sie in das bestürzte Gesicht Sarahs und sagte kalt: „Ironisch, was? Tintenherz wird auch im Buch verbrannt. Es war immer mein liebstes. Schade, dass ich es jetzt verbrennen muss.“ Sie seufzte schwer, dann ließ sie das Buch fallen, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete noch eine Weile das brennende Buch und lächelte, als der weiße, kuschelige Wollteppich zu schmoren anfing. Als sie den Kopf hob, sah sie Tränen Sarahs Wangen herunter rinnen. „Ich kann gerne weitermachen. Mal sehen, was ich noch so brennbares finde“, brach Genevieve das Schweigen und lächelte nun fies. Sarah schrie auf. „Nein!“, wimmerte sie. Dann stürmte sie aus dem Zimmer, vermutlich, um Wasser zu holen. Genevieve sah sich trotz allem um. Sie fand nichts, was sie wirklich interessierte, nur langweilige, standardmäßige Dinge. Bis sie auf Sarahs Tagebuch stieß. Wahllos schlug sie irgendeine Seite auf und las ein paar Worte.
Die Tür wurde hinter ihr aufgerissen und noch während sie herumwirbelte, schloss sie das Buch und ließ es in ihre Tasche gleiten. Sarah löschte derweil das Feuer und Genevieve beobachtete sie gelangweilt. Nachdem das Feuer gelöscht war, schritt sie auf die Reste des Buches zu, stellte einen Fuß hinein und drehte ihn ein wenig hin und her, als würde sie eine Zigarette austreten. Währenddessen blickte Genevieve Sarah direkt in die Augen, ihren Lippen zu einem ihrer herzlosen Lächeln geformt. Anschließend ging sie auf sie zu, fuhr mit ihrem Finger über den Knochen von Sarahs Oberkiefer, beugte sich vor und flüsterte in ihr Ohr: „Wir sehen uns.“ Dann machte sie ein, zwei Schritte zurück, blickte Sarah mitleidig an, dann verließ sie wortlos erst das Zimmer und dann das Haus.

Zuhause holte sie das Tagebuch hervor und las sorgfältig Seite für Seite. Einige Stellen, die sie als nützlich erachtete, markierte sie sich mit Textmarker und las die Worte wieder und wieder, um sie sich genau einzuprägen. Lächelnd schlug sie das Buch zu und ging dann ins Bett.
Die Nacht war quälend. Wieder und wieder träumte sie, dass sie in einer Dunkelheit war, bedrohlicher als alles andere, und hilflos dabei zusehen musste, wie Menschen, die sie liebte - und die Tatsache, dass es nur sehr wenige waren, machte es noch unerträglicher – lachend in die Schwärze hineinliefen und dann, begleitet von ihren Schreien, eingesogen wurden. Genevieve wollte zu ihnen rennen, sie von abhalten, weiterzugehen. Aber sie war gefesselt, eine dicke, klirrende Fessel hing an ihrem Knöchel, wie in einem Film.
Sie wachte schweißgebadet auf und brach dann in Tränen aus. Es gab nur wenige Dinge, die sie von Grund auf hasste und diese Träume waren ein Teil davon. Erst Stunden später fand sie wieder ein bisschen  Schlaf.

Am nächsten Tag gab Genevieve Sarah ihr Tagebuch in der Schule zurück. Herausfordernd und gespannt auf Sarahs Reaktion ließ sie es auf ihren Tisch fallen und beobachtete, wie das Buch ein paar Zentimeter über die Fläche schlitterte. Sarah weitete ihre Augen. „Wo hast du das her?“, flüsterte sie fassungslos. „Aus deinem Zimmer, Liebling.“, flötete Genevieve und lächelte wieder ihr Lächeln, gezeichnet von Spott und Herzlosigkeit. „Was?“, stieß das Mädchen hervor. „Sieh rein.“, forderte Genevieve es auf und verfolgte mit ihren Augen jede einzelne Muskelzuckung ihres Gegenübers. Sarah griff zögernd nach dem Buch, zog es zu sich heran und öffnete langsam, beinahe vorsichtig. Ihre Augen irrten über die Zeilen, Seite für Seite. Je mehr markierte Stellen sie entdeckte und las, desto erschrockener blickte sie und irgendwann füllten ihre Augen sich mit Tränen. „Wieso…?“, setzte sie an, doch Genevieve beugte sich zu ihr herunter und flüsterte bedrohlich: „Bevor du jemals etwas unüberlegtes tust, solltest du dich daran erinnern, dass ich mir diese Worte eingeprägt habe. Jedes. Einzelne. Merk dir das.“ Sarah schrie leise auf, dann verließ sie überstürzt das Klassenzimmer und rauschte, ihr Tagebuch fest an ihre Brust gepresst, ohne ein Wort zu sagen an ihrer Lehrerin vorbei. „Genevieve, was ist mit Sarah los?“, war das Erste, was die Frau von sich hören ließ, erhielt als Antwort aber nur ein Schulterzucken.

Als Genevieve wieder zu Hause war, lag auf dem Tisch ein Brief für sie, jedoch ohne Absender. Sie seufzte und erwartete wieder irgendeinen Liebesbrief und stieß ein „Oh“ aus, als sie Sarahs Schrift erkannte. Sie nahm den Brief mit hoch in ihr Zimmer und las ihn verwirrt.

Genevieve,
es gibt ein paar  Dinge, die ich dir schon immer mal sagen wollte und da ich jetzt umziehe, kann es mir egal sein, wie du reagieren wirst. Zerstör’ meinen Ruf dort, wo du mich zuletzt gesehen hast, das ist mir gleich. Mach, was du willst, spiel’ dir selbst vor, du hättest Macht, das alles kann mir egal sein.
Zuerst möchte ich dir sagen, dass du bei weitem nicht so schön bist, wie du denkst oder wie dir alle sagen. Nein. Du bist hässlich, abgrundtief hässlich und rede nicht von deinem Charakter – nicht nur – sondern auch von deinem Äußeren. Du magst vieles sein, aber schön bist du nicht. Du bist wie eine Made. Maden sind fett, was du – Gott bewahre – dann doch nicht bist, und hässlich und sie räkeln sich in allem, was ihnen in die Quere kommt, zerfressen und zerstören es auch. Sie sind langweilig. Und genau das bist du. Langweilig. Was macht dich schon besonders? Deine „Unerreichbarkeit“? Wie viele haben dich schon erreicht, ohne, dass es dir aufgefallen ist? Zu viele, glaub mir. Hässlich bist du wohl auch, aber das sagte ich ja bereits. Du räkelst dich in der Bewunderung, die man dir schenkt und genießt die angebliche Kontrolle, die du hast, doch eigentlich zerstörst du Tag für Tag, Stück für Stück das Leben anderer und zerfrisst gnadenlos ihre Seelen. Das wäre Punkt zwei.
Dann gibt es noch etwas, was du wissen willst: Dein ganzes Leben, zumindest das, was du jetzt, in diesem Augenblick führst, ist erlogen. Dass du nicht schön bist und dir das alle nur sagen, obwohl es nicht stimmt, muss ich nicht mehr erwähnen. Sie bewundern dich auch nicht oder wollen mit dir befreundet sein, zumindest nicht, weil sie dich toll finden. Sie haben höchstens Angst vor dir oder machen sich über dich lustig, aber das kriegst du nicht mal mit, so geblendet bist du von deiner selbst. Weißt du eigentlich, wie viele es als Probe ansehen, sich mit dir „anzufreunden“ und so lange durchzuhalten wie möglich, ohne, dass sie daran völlig zerbrechen? Oh, du solltest sie sehen, wenn sie in ihren Ecken sitzen und sich überlegen, wen sie losschicken und wie die Belohnung aussieht, sollte es jemand schaffen, einen Zeitraum X durchzustehen, ohne daran innerlich zu krepieren? Aber mach dir nicht die Mühe, sie zu suchen. Du warst niemals „so weit unten“, richtig? Du warst schon immer bei den „Beliebten“ – was wirklich traurig ist, in Anbetracht dessen, was ich dir hier gerade schildere, nicht wahr? – und „weiter oben“, du wirst wissen, was ich meine. Und soll ich dir verraten, warum du von Anfang an so „hoch oben“ warst? Weil du dir das alles eingebildet hast. Aber wer auch nur ansatzweise so tut, als wäre beliebt oder es zumindest gewesen, der wird genau das sein: Beliebt, egal auf welche Art und Weise.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich gerade etwas Mitleid mit dir. Zu gern würde ich jetzt dein Gesicht sehen, jetzt, in diesem Moment, in dem dir klar wird, wie recht ich doch habe und wenn du an alles Mögliche zurückdenkst und dir bewusst wird, dass du alles ganz falsch betrachtet hast. Vermutlich werde ich nichts in dir bewegen können, du bist viel zu dumm dafür, das wissen wir beide. Aber eigentlich ist auch das mir egal. Ich muss mich nicht mehr damit rumärgern, sondern irgendein anderer Vollpfosten.
Weißt du, ich habe mich mit vielen unterhalten, die mit dir zu tun hatten. Zum Beispiel Lucas, die Glorich-Zwillinge oder Hannah Mürtil. Fast alle haben, die mit mir gesprochen haben, haben mir gesagt, sie wären deinetwegen durch die Hölle gegangen – aber dieses Wissen wird dir wahrscheinlich unfassbare Genugtuung bereiten, richtig? Mich hast du nicht durch die Hölle geschickt, du hast mich lediglich zu den Toren davor getrieben. Zugegeben, manchmal habe ich eine kleine Show abgeliefert, um dir für genau diesen Zweck noch mehr – rein metaphorisch betrachtet – so richtig eine in die Fresse zu schlagen.
Was auch immer du tust, ich wünsche dir viel Spaß dabei,
Sarah

P.S.: Ja, ich bin `n kleines Miststück, aber soll ich dir mal was sagen? Ich hatte die perfekte Lehrerin, Genevieve.

Genevieve las den Brief wieder und wieder, solange, bis sie in Gelächter ausbrach. Sarah versuchte also so, ihr zu sagen, was für ein schrecklicher Mensch sie doch war und fühlte sich wohl, sobald sich die beiden nicht gegenüber standen, ziemlich stark. Genevieve fand das Ganze so lächerlich, dass sie den Brief kurzerhand in ihrem Zimmer verbrannte. An dem qualmenden Feuer zündete sie sich eine Zigarette an. „Wieso muss ich eigentlich immer alles anbrennen?“, murmelte sie, während sie auf ihrem Bett saß, ihrem Spiegelbild am anderen Ende des Zimmers entgegen. Sie grinste, blies den Rauch in die Luft und zuckte dann mit ihren Schultern. Dann beobachtete sie gedankenverloren das Feuer, das vor ihren Augen immer kleiner wurde, bis es letztendlich nur noch ein dunkler Rauchfaden war. Seufzend erhob sie sich und kippte die Asche, die sie in ihre Hand geschnippt hatte, aus dem Fenster. Sie beobachtete, die sich die kleinen Aschefetzen im Wind verteilten und in die verschiedensten Richtungen getragen wurden. Plötzlich riss jemand die Tür hinter ihr auf. „Was zur Hölle riecht hier denn so verbrannt?“, schimpfte ihre Mutter. Typisch spöttisch lächelnd und mit unschuldigem Blick drehte sich Genevieve vom Fenster weg in Richtung Tür. „Ich hab Nachrichten bekommen, die ich nur mit Verbrennen loswerden konnte.“, sagte sie zuckersüß. „Na dann.“, meinte ihre Mutter und die Alarmiertheit in ihrer Stimme, die zuvor überdeutlich darin zu hören gewesen war, wich nun einer Gleichgültigkeit, die Genevieve nur allzu gut von sich selbst kannte. Mit diesen Worten ließ ihre Mutter sie in Ruhe und Genevieve schloss seufzend die Tür hinter ihr. Dann ließ sie den Blick über ihr Zimmer, das komplett in weiß gehalten war, schweifen, ehe sie einen flüchtigen Blick auf die Uhr warf, dann seufzte sie erneut, als ihr einfiel, dass sie noch Hausaufgaben zu erledigen hatte. Widerwillig setzte sie sich an ihren Schreibtisch und kritzelte irgendwas hin – es war lange her, dass sie die Hausaufgaben selbst machte, denn normalerweise hatte sie diese bei ihren Marionetten abgeschrieben. Aber zum ersten Mal seit langem war sie ohne Opfer und irgendwie fühlte sie sich leer.
Nachdem sie die Hausaufgaben erledigt hatte – ihr wurde wieder klar, warum sie das sonst nie getan hatte, denn es war in ihren Augen reine Zeitverschwendung – griff sie zum Handy und scrollte durch ihr Telefonbuch. Irgendwann blieb sie an einem Namen – Shelby – hängen. Es war einer der wenigen Namen, hinter denen kein X – das Zeichen für Genevieve, dass sie diese Menschen bereits in ihr Leben aufgenommen und anschließend wieder verbannt hatte – vermerkt hatte. Ohne lange Nachzudenken rief sie die Nummer an.
„Hallo?“, tönte es vom anderen Ende. „Shelby? Hey, hier ist…“, setzte sie an, wurde jedoch von einem ungläubigen Beinahe-Schrei unterbrochen: „Genevieve?“ Dann fuhr die Stimme schnell fort: „Hi, wie geht’s so, was machst du so, warum rufst du eigentlich an?“ Genevieve zog die Augenbrauen hoch und fragte sie, ob Shelby die richtige Entscheidung gewesen war, aber sie würde vermutlich nur eine kurze Überbrückung darstellen, bis sie sich jemanden gefunden hatte, der ihr, in ihren Augen, mehr nutzen würde. „Mir geht’s gut, ich telefoniere gerade mit dir und ich rufe deshalb an, weil ich mich mal gerne mit dir treffen würde“, sagte sie und zwang sich dazu, freundlich zu klingen, obwohl sie bereits jetzt schon genervt und desinteressiert war, aber jetzt musste sie da durch und konnte nicht mal sagen, sie hätte sich verwählt, denn immerhin hatte sie Shelby beim Namen genannt. „Wirklich?“, kam es aus dem Hörer und auch, wenn Genevieve sich nur dunkel überhaupt an Shelbys Gesicht, geschweige denn an deren Gestik und Mimik erinnern konnte, war sie sich sicher, dass das Mädchen die Augen weit aufriss. „Natürlich“, fauchte Genevieve gereizt und bereute es fast schon, so reagiert zu haben. Denn auch, wenn Shelby nur eine  Lückenbüßerin war, würde sie ihr noch wichtig sein, wenn auch nur kurzzeitig. Sie schloss die Augen und versuchte, sich Shelby innerlich am Telefonhörer vorzustellen. In ihrer Vorstellung zuckte das Mädchen zusammen und biss sich verunsichert auf die Unterlippe, so, wie sie es schon bei vielen anderen ihrer Opfer gesehen hatte. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, dann riss Shelbys Stimme sie zurück in die Realität. „Ich…tut mir leid.“, murmelte sie und das Schuldgefühl war deutlich herauszuhören. Genevieve legte einen mitleidigen, aber dennoch freundlichen und verzeihenden Ton in ihre Stimme, als sie sagte: „Ist schon okay, Liebes. Wo hast du denn morgen Unterricht?“ Sie verabredete sich nach langem Hin und Her für die erste große Pause in der Schule mit Shelby, dann legte sie auf und seufzte. „Himmel, das wird anstrengend.“, murmelte sie und rauchte noch eine, während ihr klar wurde, dass sie in der Zeit, die sie mit Shelby verbringen würde, viel mehr als gewöhnlich rauchen und damit viel mehr Ausgaben haben würde – ein Grund mehr, sich bereits jetzt schon nach jemanden neuem umzusehen, der nicht so nervtötend war wie das Mädchen.
Noch während sie drei Zigaretten hintereinander auf ihrem Bett sitzend rauchte, versuchte sie krampfhaft, sich an Shelbys Gesicht zu erinnern, damit sie sich morgen zumindest erkennen würde. Aber es gelang ihr beim besten Willen nicht. „Dann lass ich mich eben überraschen.“, murmelte sie und blickte in ihren Spiegel. Irgendwann schlief sie ein.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich ungewohnt wach und erholt, dieses Mal hatte sie nicht von verschlingenden Dunkelheiten geträumt. Dieses Mal konnte sie sich nicht mal an ihre Träume erinnern und es fühlte sich ziemlich befreiend an. Dementsprechend positiv sah sie dem Treffen mit Shelby entgegen, auch, wenn das Treffen ihrer guten Laune einen kleinen Dämpfer verpasste.
Da Genevieve immer noch nicht wusste, wie Shelby aussah, trödelte sie nach der Stunde etwas, denn sie hatten letztendlich vereinbart, dass Shelby sie abholen würde. Als sie dann aus dem Klassenzimmer trat, winkte ihr ein Mädchen mit milchkaffeebrauner Haut, rundem Gesicht und wilden, braunen Krauslocken zu. „Hey, Genevieve!“, rief das Mädchen und Genevieve biss die Zähne zusammen, um ein genervtes Stöhnen zu unterdrücken. Sie setzte ihr herzlos-spöttisches Lächeln auf und begrüßte Shelby widerstrebend mit einer Umarmung.
Das Mädchen redete und redete, die ganze Pause lang und irgendwann reichte es Genevieve: „Verdanmt, kannst du nicht einmal den Mund halten? Nur einmal?“ Shelby zuckte zusammen. „Ich…ich…tut mir leid.“, murmelte. „Ach, tut es das?“, fauchte Genevieve gereizt und ihr Blick schien Bände zu sprechen, denn Shelby drehte sich um, mit Tränen in den Augen, und ging. Seufzend holte Genevieve ihr Handy hervor und setzte in ihrer Kontaktliste ein X hinter Shelbys Namen. Dass sie es nicht lange mit ihr ausgehalten hätte, wusste sie, aber dass es so schnell gehen würde, beunruhigte sie. Frustriert überlegte sie, was sie jetzt tun sollte und wünschte sich ihre gute Laune zurück. Alleine durch die Gegend laufen würde sie nicht, diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Plötzlich sprach sie jemand an. „Hey“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Angespannt fuhr sie herum, als sie Joshua, Lucas’ Cousin, erkannte. „Hey“, strahlte sie ihn an. „Ich…ich hab das eben beobachtet.“ Joshua grinste, dann fuhr er fort: „Shel kann ziemlich nerven, ich glaube, so ziemlich jeder verliert irgendwann die Nerven, wenn er mit ihr redet. Aber…“, er machte Anstalten, Genevieves Arm zu berühren, doch sie zog nur die Augenbrauen hoch und er ließ den Arm wieder sinken, „…wenn du willst, dann könnten wir was zusammen unternehmen.“ Beinahe dankbar blickte Genevieve ihm in die Augen, riss sich jedoch zusammen und lächelte kalt. „Gerne. Holst du mich dann später ab?“ Joshua nickte, dann ging wieder zurück in ihr Klassenzimmer, da es geklingelt hatte. Vor der Tür drehte sie sich noch mal zu dem Jungen um und warf ihm eine Kusshand zu. Als sie das selbstgefällige Lächeln Joshuas bemerkte, bis sie sich auf die Zunge, um nicht laut loszulachen.

In der nächsten Pause wartete Joshua schon ungeduldig auf Genevieve und sie legte ein breites Lächeln auf und ließ sogar die freudige Umarmung über sich ergehen. Dass Joshua genauso alt war wie sie merkte man ihm nicht an. Sie wusste, dass er älter wirkte, aber sie würde dafür sorgen, dass er neben ihr wie ein Kind aussehen würde, dass wusste sie jetzt schon und der Gedanke beruhigte sie und brachte ihr ihre gute Laune zurück. Sie liefen zusammen zur Cafeteria und auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass Joshua immer wieder versuchte, ihre Finger zu streifen, einmal meinte sie, dass er sogar nach ihrer Hand greifen wollte, doch sie zog sie weg, blickte ihn an und lächelte. Als sie den enttäuschten Blick registrierte, lächelte sie ihn an und flüsterte ihn sein Ohr: „Noch nicht, ja? Lassen wir uns Zeit.“ Genüsslich dachte sie daran, wie viel Spaß sie noch mit ihm haben würde, als sie seine glitzernden Augen sah.
Nachdem sie sich einen Kaffee gekauft hatte, setzten sie sich an einem Tisch und sie begann, ihre üblichen Flirtspielchen zu spielen. Beinahe hatte sie Mitleid mit Joshua, der noch dümmer zu sein schien als sein Cousin.

Wochen vergingen und Genevieve hatte sichtlich ihren Spaß, zumindest, bis sie merkte, dass Joshua ihr fast so etwas wie wichtig wurde. Verzweifelt tat sie alles, um dieses Gefühl wieder loszuwerden, wurde immer unfreundlicher zu ihm, spielte immer mehr, extremer und offensichtlicher mit ihm. Die Tatsache, dass Joshua dadurch nur noch mehr an ihr zu hängen schien, machte ihr Angst, doch sie es ließ trotzdem zu, dass er immer wieder ihre Hand hielt, achtete jedoch stets darauf, dass niemand es sah, denn ihren Ruf wollte sie nicht riskieren, hatte sie doch mal gesagt, dass sie, sobald sie in einer Beziehung war oder etwas, was dem nahe kam, verweichlicht und nicht mehr ernst zu nehmen war.
Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto mehr lernte sie ihn auch kennen und desto größer wurde die Angst in ihr, dass er ihr tatsächlich wichtig werden könnte, denn das wäre gegen ihre Natur. Denn das, was sie von ihm wusste, gefiel ihr, für ihren Geschmack viel zu sehr.
Irgendwann lud Joshua sie zu sich nach Hause ein und es missfiel ihr, wie sehr sie sich darüber freute.

Als sie das Zimmer betrat, schluckte sie. Ihr Blick fiel auf eine Gitarre und ihr Magen krampfte sich zusammen. Joshua, der sie wohl heimlich beobachtet hatte, fragte besorgt: „Alles okay?“ Sie riss sich zusammen und nickte. „Klar“, sagte sie kühl. Langsam lief sie durchs Zimmer und sah sich um, immer mit Joshuas Blick in ihrem Rücken. Sie drehte sich um und hielt eine Box in der Hand. „Was ist das?“, fragte sie ihn. „Da sind meine….Da sind Bücher drin.“ Genevieve zog eine Augenbraue hoch. „Bücher? Interessant.“ Sie machte Anstalten, die Box zu öffnen, doch Joshua rief: „Nein!“ „Nein?“, fragte sie provozierend. „Bitte, du wirst es verstehen. Nicht jetzt. Ein anderes Mal. Okay?“ Ehe sie sich versah, stand der Junge neben ihr und riss ihr die Box aus der Hand. „Du lebst gefährlich, das weißt du?“, erkundigte sie sich leise und bedrohlich. Joshua senkte den Kopf, schlug die Augen nieder und nickte bedrückt. „Gut“, sagte Genevieve wieder lauter mit ihrem spöttischen Lächeln und ihrem arroganten Ton in der Stimme. Dann machte sie eine 180°-Drehung und schritt zielstrebig zur Gitarre. Langsam und nachdenklich zupfte sie nacheinander die Saiten, dann forderte sie: „Spiel mir was vor.“ Sein Kopf fuhr hoch und er lief mit großen Sätzen durchs Zimmer und griff zur Gitarre. „Kannst du Wonderwall?“, fragte sie. Er nickte. „Das ist das einfachste, das können total viele, deswegen wollte ich das eigent…“ „Spiels mir vor!“ „Aber…“ Doch Genevieve unterbrach ihn scharf: „Ich sagte: Spiels mir vor!“ Joshua presste die Lippen aufeinander, dann setzte er sich auf sein Bett und begann zu spielen. Genevieve ließ sich neben ihm aufs Bett sinken, lehnte sich zurück, stützte sich mit ihren Armen ab und schloss die Augen. Als das Lied zu Ende war, öffnete sie sie wieder und betrachtete Joshuas Profil, während er weiter irgendwelche Melodien spielte. Irgendwann hörte er auf und wandte sein Gesicht zu ihr und lächelte. „Danke.“, sagte sie leise und merkte, wie untypisch das für sie klang. Das musste auch Joshua klar sein, denn er zog freudig die Augenbrauen hoch. „Danke?“, wiederholte er hoffnungsvoll. Genevieve beschloss, es einmal sein zu lassen und nickte, dann rutschte sie wieder vor zu ihm. Für einen Moment saßen beide schweigend nebeneinander. „Du bist ziemlich einsam, oder?“, brach Joshua dann plötzlich das Schweigen. Nach kurzem Zögern sagte Genevieve: „Ja, irgendwie schon.“ „Wenn du so einsam bist, warum bist du dann so…“ Verzweifelt suchte Joshua ein passendes Wort. „Ekelhaft?“, schlug Genevieve und lachte. „Ja, das wird es wohl sein“, er grinste schief. „Keine Ahnung“, gab sie schulterzuckend zu. „Bindungsängste oder so. Wahrscheinlich auch wegen meiner Albträume.“ „Albträume?“, hakte Joshua nach und in seiner Stimme schwang Überraschung mit. „Ja, stell dir vor, ich hab Albträume“, knurrte sie gereizt. „’tschuldigung, es war nur…egal.“, winkte er ab. Wieder schwiegen die beiden. Genevieve war das Ganze plötzlich schrecklich unangenehm, doch das Gefühl, auch, was Gefühle betraf, ehrlich zu sein, war so befreiend und angenehm, was dazu führte, dass in ihr ein Hin und Her herrschte und sie einfach nur noch weg wollte. „Ich…ich denke, ich muss gehen“, stammelte sie hastig und stand auf. Joshua blickte sie mit großen Augen an. „Bitte, bleib noch.“, bat er und sie seufzte, als sie merkte, dass diese drei Worte die Schlacht in ihrem Kopf beendeten. „Aber nur noch eine Stunde.“, murmelte sie und setzte sich wieder. Joshuas Lächeln sorgte irgendwie dafür, dass sie sich sicher fühlte, dabei wusste sie nicht mal, was sie bedrohte. Aus einem unerklärlichen Grund lehnte sie sich an ihn und fühlte sich gut. Verliebt war sie nicht, das war ihr klar. Was diese Gefühle, die ihr solche Angst machten, die in ihr tobten, dann waren, wusste sie aber nicht. Der Junge legte einen Arm und sie und stützte sein Kinn auf ihrem Kopf an und wieder schwiegen die beiden. „Ich habe Angst“, platzte sie plötzlich heraus. „Wie bitte?“, fragte Joshua verwirrt und schob sie von sich weg. „Ich habe Angst. Vor Dunkelheit. Vor Nähe. Das hier macht mir Angst.“ Sie biss sich auf die Lippe und ärgerte sich darüber, dass sie so schwach wurde. Als sie keine Antwort erhielt, wollte sie aufstehen und doch gehen, aber er hielt sie fest. „Lass mich los!“, fauchte sie und riss sich los. Verwirrt sah Joshua sie an, doch sie schnaubte nur und ging.
Egal, wie gut sie sich gefühlt hatte, als sie so schwach an Joshua gelehnt hatte, ihr ‚kaltes’ Ich fühlte sich viel besser an, wie eine Schutzhülle, und sie beschloss, nie wieder schwach zu werden, egal, wie groß die Versuchung zu sein schien.

Nachts klingelte plötzlich ihr Handy und noch im Halbschlaf – sie hatte ausnahmsweise wieder keine Albträume – ging sie ran und brummte: „Ja?“ „Machst du mir bitte auf?“, fragte eine Stimme am anderen Ende und mit einem Schlag war Genevieve wach. „Joshua?“, entfuhr es ihr und irgendwie machte das Lachen, das ihr entgegentönte, sie wütend. „Also, was ist jetzt?“, drängte er schließlich und sie seufzte, ehe sie sich auf dem Weg machte und leise die Tür öffnete. „Was zur Hölle machst du hier?“, fuhr sie ihn leise an, nachdem er hereingeschlüpft war. Er grinste nur, ehe er sagte: „Ich wollte dir den Inhalt der Box geben.“ „Jetzt!?“, schnauzte Genevieve und zeigte ihm einen Vogel. „Ja, jetzt. Bitte.“, er drückte ihr die Box in die Hand und als er bemerkte, dass sie ihn völlig perplex anstarrte, grinste er noch breiter und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Schlaf schön.“ Fassungslos starrte sie ihn weiterhin an, doch nachdem er ihr liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht strich, riss sie wütend die Tür auf. „Hau bloß ab!“, keifte sie, immer noch leise und schloss dann leise, aber bestimmt die Tür und verschwand dann in ihrem Zimmer. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und öffnete die Box. Überraschte holte sie drei recht dicke Bücher, mit schlichtem weißen Einband hervor. Sie öffnete eines der Bücher und das erste, was sie las, waren die Worte „Dinge, die ich schrieb, während ich an dich dachte“. Nachdem sie geschluckt hatte, blätterte sie um und begann, ein wenig in den Büchern – die alle mit Texten, die er geschrieben hatte, während seine Gedanken um sie kreisten, gefüllt waren – zu lesen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie die Worte las. Sie liebte Worte, konnte jedoch nicht damit umgehen. Umso dankbarer war sie für die Texte, die nun ihr gehörten. Einen Text las sie sich besonders oft durch.

Wenn ich an dich denke, dann ist, als ob alles um mich herum und in mir drin zu einem Sommer wird und jedes Mal, wenn du auch nur in der Nähe bist, fegt ein Schneesturm durch diesen Sommer und auch, wenn dadurch alles grauer und kälter werden müsste, wird alles nur noch intensiver: Wärmer, heller, schöner.
Jedes Lächeln, dass du auf Kommando auflegen kannst, ohne wirklich glücklich zu sein, ist wie Make-Up und ich habe immer das Gefühl, dir diesen Lippenstift voller Spott, Gleichgültigkeit, Hass, Herzlosigkeit, Sehnsucht und Einsamkeit wegwischen zu müssen und dir zu zeigen, wie sich Glück, Liebe und Geborgenheit anfühlen, obwohl ich weiß, dass du das niemals zulassen würdest, denn dafür bist du zu stolz.
Egal, wie dunkel etwas scheint, sobald auch nur dein Name fällt wird alles heller und freundlicher.

Genevieve lachte, bei dem Gedanken daran, dass Dunkelheit ihr solche Angst bereitete und sie beinahe jede Nacht in ihren Träumen heimsuchte.

Es mag vielleicht unwichtig erscheinen, aber meine Lieblingstiere sind Wölfe und wie oft haben sie mich schon an dich erinnert? Schön, schweigend, nie allein und doch redet man oft vom einsamen Wolf. Ich habe einmal einen Satz, der mich nie wieder los ließ, gelesen, der lautete Auch der einsame Wolf lebt im Rudel und das Erste, was mir dabei in den Sinn kam, war dein Gesicht – jetzt könnte man sagen, dass es daran liegen könnte, dass dein Gesicht ständig in meinen Gedanken herumirrt, wie ein Kind, dass sich in einem einfachen Irrgarten verlaufen hat. Aber das war nicht der Fall. Denn du hast immer jemanden um dich herum und bist doch so einsam, dass allein der Anblick deiner traurigen Augen weh tut – wie sehr muss also deine Seele dann wirklich schreien und schmerzen? Ist sie gefesselt und in Ketten gelegt, eingesperrt von deinem Stolz, bewacht von Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit? Oder wird sie einfach so lange mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie gar nicht mehr zu Wort kommt, außer in deinen Träumen – wenn sie denn dort überhaupt die Chance hat, ihre – oder sollte ich sagen deine? - Ängste, Liebe, Sehnsucht und Einsamkeit hinauszubrüllen? Haben auch dann Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit die jeweilige Hälfte des Schlüssels, den sie gnadenlos zerbrachen, der Zelle, in der deine Seele eingekerkert wurde, verschluckt, ohne jegliche Chance, ihn je wieder zurückzuholen, und somit deiner Seele, die doch so zart wie ein junges, von Winter, Schnee und Frost angegriffenes Pflänzchen ist, jedwede Hoffnung genommen, sich auch nur jemals wieder bemerkbar zu machen? Oder rinnt sie mit jeder Träne, schwebt sie mit jedem Seufzer aus dir heraus, hinterlässt eine kalte Spur, die alles um dich herum zu Eis erstarren lässt? Streift sie jeden um dich herum, löst Angst und Schuldgefühle in ihnen, während sie sich durchgehend fragen, was sie falsch gemacht haben, dass du dich so benimmst, obwohl du lediglich zu Sklavin dieser mächtigen Emotionen wurdest? Hast du dich jemals dafür entschuldigt für die Dinge, die du mit den Menschen getan hast, egal, ob bewusst oder unbewusst? Oder hast du gar nicht gemerkt, so befangen von all den Gefühlen, die dich innerlich immer mehr zerfressen, wie Motten, die sich gnadenlos und gierig durch Vorhänge fressen?
Wurdest du jemals so geblendet von einem Menschen, der so hell war wie die Sonne, so brennend, so erhellend, so fasziniert und so gefährlich? Denn so fühlt es sich für mich an, wenn ich dich sehe, besonders, wenn du den nikotingeschwängerten Rauch deiner Zigaretten in die Luft pustest und so aussieht, als würde deine Seele aus dir fliehen wollen und sich, schwebend wie ein Geist, von dir entfernt.
Sag mir, hast du jemals so über einen Menschen gedacht, habe ich hier die Wahrheit niedergeschrieben?

Sie schluckte. Alles, jedes einzelne Wort war wahr und das löste in ihr Panik aus. Dieser Mensch hatte diesen Text vor drei Monaten geschrieben, das erkannte sie an dem kleinen Datum, das er so klein darüber geschrieben hatte, dass sie es beinahe überlesen hätte. Wieder und wieder las sie die Worte, bis sie schließlich in Tränen ausbrach. Die Bücher packte sie zurück in die Box und schob sie, mit verschwommener Sicht, unter ihr Bett, dann rollte sie sich in ihrem Bett zusammen und weinte, solange, bis sie schließlich einschlief.
Wieder träumte sie von der Dunkelheit, die Ketten waren diesmal stärker, selbst ihre Hände waren festgebunden, ihre Schreie waren lauter und verhallten schneller als gewöhnlich, was ihren Adrenalinpegel noch mehr anstiegen ließ. Als sie Joshua entdeckte, rannen ihr Tränen über die Wangen, sowohl im Traum als auch in der Realität. Joshua lachte befreit und drehte sich glücklich im Preis, er sprang nahezu in die Dunkelheit hinein. Genevieve hasste sich dafür, als sie – wenn auch nur im Traum – mit einem Aufschrei zusammenbrach und dem Jungen hinterher jaulte. Flach atmend fuhr sie herum, als sie eine Berührung an ihrer Schulter spürte. Sie schämte sich dafür, als sie „Oh, Gott sei Dank wimmerte“, während sie Joshua in die Arme fiel, der sie nur angrinste. Er strich ihr beruhigend über den Rücken und machte Geräusche, die sie wohl beruhigen sollten, doch letztendlich machte die ganze Situation alles nur noch schlimmer. Nach einer Weile, Genevieve hatte sich inzwischen beruhigt, schob Joshua sie von sich und klimperte mit einem Schlüssel in seinen Finger. „Ich kann dir helfen. Pass auf, ich befreie dich jetzt davon und dann wird alles gut.“, er lächelte warm.
Genevieve fuhr hoch. Sie spürte getrocknete Tränen auf ihren Wangen, das Salz, das sich anfühlte, als würde es sich auf der Haut zusammenziehen. Wütend trommelte sie auf ihr Kissen ein, während sie immer wieder leise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpresste: „Wieso? Wieso? Wieso? Wieso er? Wieso jetzt? Ich will das nicht. Nein. Nein. Nein.“ Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie in einer halben Stunde aufstehen müsste, also blieb sie wach und dachte immer wieder über ihren Traum und Joshuas Worte, die aufgeschrieben unter ihrem Bett darauf warteten, wieder gelesen zu werden, nach. Frustriert griff sie irgendwann zum Handy und schickte Joshua eine SMS, in der stand, dass sie sich noch vor der Schule mit ihm treffen und deshalb die Schule schwänzen würde. „Fällt ja zurzeit niemanden auf, wenn ich nicht da“, murmelte sie. Zehn Minuten später erhielt sie eine Antwort, in der stand, dass Joshua sich mit ihr treffen und auch schwänzen würde.

Die Unsicherheit, die Genevieve verspürte, machte sie wahnsinnig. Als Joshua ihr endlich entgegen kam und die Arme ausbreitete, um anzudeuten, dass er sie umarmen wollte, zwang sie sich zu einem Lächeln und umarmte ihn umständlich. „Also, was ist los?“, fragte er besorgt und sein Blick wanderte über ihr Gesicht – ihr war klar, dass die Augenringe nicht mehr mit Make-Up zu verstecken waren. Um ein bisschen runterzukommen, zündete sie sich eine Zigarette an und blies, sichtlich entspannt, den Rauch in die Luft. Sie dachte an die Worte, mit denen Joshua den Qualm beschrieben hatte: nikotingeschwängerter Rauch, der ihre Seele, die vor ihr fliehen wollte, enthielt. „Ich habe ein paar deiner Texte gelesen.“, sagte sie schließlich und begann plötzlich, zu gehen. Ja, bewegen, das brauchte sie jetzt, zusätzlich zur kleinen Tabakstange in ihren Fingern. Erwartungsvoll, aber schweigend, sah Joshua sie an. Genevieve konnte das Wort, das ihm auf der Zunge lag, im Rauch sehen: Und? Das brachte sie zum Lächeln, ehe sie sagte: „Sie sind atemberaubend.“ Sie nickte anerkennend und biss sich auf die Unterlippe, als sie die Erleichterung, die der Angespanntheit Joshuas wich, bemerkte. „Du hast von der Dunkelheit geschrieben und dass ich sie verdrängen würde. Ziemlich Ironie…“, setzte sie an. Es kostete sie eine Menge Überwindung, die folgenden Worte auszusprechen, weshalb sie vorher zitternd tief durchatmete: „…wenn…wenn man bedenkt, dass ich Angst vor der Dunkelheit habe.“ Joshua verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Für einen Moment bereute Genevieve ihr Geständnis, verdrängte die Reue schnell, denn es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie in seiner Gegenwart Schwäche zeigte – was ihr immer noch zu schaffen machte. Doch dann lachte er neben ihr leise auf, schließlich sagte er, dass sich Dinge oft widersprechen würden und diese Antwort stimmte sie keineswegs zufrieden. Unzufrieden starrte sie auf den Boden und kickte einen kleinen Stein fort. Wütend auf sich selbst, redete sie sich gedanklich zu, dass sie sich zusammenreißen und erwachsen benehmen sollte. Sie schreckte zusammen, als Joshua plötzlich einen Arm um ihre Schultern schlang. In ihr brach die starke, mächtige Seite hervor, sie schüttelte seinen Arm und fauchte: „Was soll das?“ Abwehrend hob er die Hände, konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Wie am Tag zuvor wollte Genevieve gehen, zu große Angst machte ihr der innerliche Kampf zwischen der starken und der schwache Seite ihrer selbst, doch auch diesmal hielt Joshua sie fest. „Renn jetzt bloß nicht weg!“ In seiner Stimme lag fast etwas bedrohlich, was Genevieve erst recht nicht gefiel. „Willst du mir jetzt etwa vorschreiben, was ich zu tun habe und was nicht?“, entgegnete sie und der kalte, arrogante Ton, der für sie so typisch war, beruhigte sie, sorgte dafür, dass sie sich sicher fühlte. Sie entspannte sich und wie um sich zu belohnen, zündete sie sich noch eine Zigarette an und fühlte sich plötzlich unglaublich einsam. Verzweifelt versuchte sie, die Worte, die sie noch vor wenigen Stunden mit völliger Fassungslosigkeit darüber, dass sie jemand, mit dem sie so wenig zu tun hatte, zu kennen schien, gelesen hatte. Die Einsamkeit bewachte ihre Seele, die für immer zum Schweigen verdammt war. Sie biss die Zähne zusammen, denn alles in ihr schrie danach, sich auf den Jungen zu stürzen und ihm weh zu tun, egal wie. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Joshua immer noch nicht geantwortet hatte. „Was ist? Ich hab immer noch keine Antwort erhalten“, sagte sie schnippisch und fühlte sich wohl; so wohl, dass sie sich fragte, was an ihr echt war und was nicht. Sie bemerkte seinen Blick, der auf ihr ruhte, dann sagte er: „Will ich nicht. Aber ich denke, du solltest dich selbst finden und…“ Genevieve brach in Gelächter aus. „Ich habe mich selbst gefunden. Ich habe nicht mal verloren. Aber schön, dass du mich besser zu kennen scheinst.“, fauchte sie. Dann drehte sie sich um und ging, Joshuas Rufe und Bitten, doch zu bleiben, geflissentlich ignorierend.
Sobald sie ihr Zimmer betrat, brach sie zusammen. Sie schrie, jammerte und weinte. Sie hasste Joshua. Dafür, dass er all diese Dinge gesagt hatte. Dafür, dass er dachte, sie zu kennen. Dafür, dass er recht hatte. Doch egal, wie sehr sie ihn für die Dinge hasste, gleichzeitig verspürte sie eine tiefe Zuneigung zu ihm – aus genau denselben Gründen. Sie liebte ihn, aber auf eine ehrliche, freundschaftliche Art und Weise und das brachte sie um. Jahrelang hatte sie erfolgreich jedwede Zuneigung aus ihrem Leben verbannen und jeden, den sie auch nur lieben sollte, inklusive ihrer Eltern, von sich gestoßen und fern gehalten. Oft hatte sie das Gefühl, sie wäre wie Robinson Crusoe, alleine auf einer Insel gestrandet und sie war glücklich damit – dann kam Joshua, der wohl so etwas wie Freitag war, und plötzlich brachen sämtliche Emotionen, die sie so erfolgreich erstickt hatte, wie Wellen über sie ein. Einsamkeit, Sehnsucht, Liebe, Enttäuschung – plötzlich spürte sie das alles auf einmal und sie drehte durch. Es war so unkontrolliert. Wenn sie etwas fühlen wollte, dann las sie Tintenherz – denn dort hatte sie ihre Gefühle gesperrt, wenn sie sie doch mal brauchen sollte, konnte sie sie jederzeit wieder zu sich holen. Aber diese Dinge so ohne Vorwarnung zu verspüren versetzte sie in Wut und Panik. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass Tintenherz nutzlos war. Wozu sollte sie denn auch noch gebrauchen, wenn sie all diese Emotionen, die in ihr Ekel hervorriefen, ungewollt und ausgelöst durch einen Menschen, der wirklich existierte, spüren konnte? Sie weinte immer weiter, wimmerte und schloss die Augen. Sie wollte die Welt nicht mehr sehen. Wollte nicht, dass ihr Blick – egal, ob zufällig oder nicht – auf die Kiste fiel, in der die Worte Joshuas gefangen waren. Wollte nicht, dass sie immer mehr Dinge entdeckte, sie ihre kleine, heile Welt, die wie die Glaskugel einer Schneekugel um sie herum aufgebaut war, zerriss, zersprang und in Scherben dort lag, als hätte sie jemand auf den Boden geschmettert.
Sowie sie Augen geschlossen hatte, merkte sie nicht, wie sie auf den Boden fiel – doch genau dieser Aufprall schien auch die Schneekugel, die ihr Leben darstellte, erschütterte und ihr kleine Risse verpasste, durch die nun das Wasser gluckernd heraussickerte, bis sich alles auf dem Boden verteilt hatte und nicht mal ein Tropfen in den Scherben liegen blieb – und das war Genevieve. Leer, jede einzelne Träne war nun vergossen und als sie so ausgebrannt neben ihrem Bett auf dem weißen, flauschigen Teppich, den sie auch damals in  Sarahs Zimmer entdeckt hatte, lag und bemerkte, dass alles um sie herum von ihren salzigen Tränen durchnässt war, wurde ihr klar, dass Joshua recht hatte: Sie hatte sich verloren. Sie würde sich finden müssen. Aber davor hatte sie Angst. Sie war der Meinung gewesen, sich gefunden zu haben, dabei hatte sie sich Tag für Tag mehr und mehr verloren. Was, wenn das wieder passierte? Was, wenn sie sich immer mehr verlor? War das überhaupt möglich? Es war ihr egal. Sie würde lieber hier sitzen, auf immer und ewig, wenn es sein musste, und sich selbst, so völlig verloren, anstatt das Risiko einzugehen, einem Menschen, den sie eigentlich kontrollieren und durch die Hölle schicken wollte, in die Augen zu sehen und ihm die Worte, die sie so sehr hasste – „Du hattest recht“ – zu sagen. Nicht mal zu schreiben gewagt hätte sie sich. Dafür war sie zu stolz. Einsperrt von deinem Stolz, hallte es in ihrem Kopf und sie schrie auf. Wütend. Wütend auf sich. Wütend auf Joshua. Wütend auf die Worte, die da so unschuldig unter ihrem Bett warteten. Wütend auf die Erkenntnis, dass sie sich verloren hatte. Wütend auf die Erkenntnis, dass sie selbst die ganze Zeit belogen hatte. Vollgepumpt mit Adrenalin griff sie zur Zigarette – auf dem Heimweg hatte sie so viele geraucht, dass sie nicht mal mehr wusste, die wievielte sich jetzt verschwendete – und rauchte sie, so schnell und wütend, dass ihr übel wurde. Nachdem die Zigarette aufgeraucht auf dem Boden landete, würgte Genevieve und übergab sich direkt neben dem Stummel.
Erschöpft ließ sie auf ihr Bett sinken und betrachtete ihr Erbrochenes und den Zigarettenstummel, der, wie absichtlich dort platziert, daneben lag und dachte bekümmert daran, dass das ihr Leben war und dass sie aus genau diesen Gründen aufgehört hatte, zu fühlen und ihre Gefühle gewaltsam erstickt hatte. Um sich selbst vor solchen Dingen zu bewahren. Sie hatte oft genug gesehen, was Emotionen mit Leuten anstellte, von klein auf und so hatte sie schon früh angefangen, sich gegen ihre Gefühle krampfhaft zu wehren und sie auszutricksen, bis Genevieve sich sicher war, dass sie nie wieder etwas fühlen würde, was ihr irgendwie schaden könnte – dass genau diese Dinge, nach all den Jahren, so unerwartet über sie hereinbrachen, trieb sie in den Wahnsinn. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie nachempfinden konnte, was alle, mit denen sie jemals Kontakt gepflegt hatte, durchgemacht hatten, was Sarah meinte, als sie schrieb, wie viele sagten, Genevieve hatte sie durch die Hölle geschickt – denn jetzt schickte sie sich selbst durch die Hölle. Sie verzog das Gesicht, als ihr das alles bewusst wurde, dann machte sie sich daran, ihr Erbrochenes aufzuwischen. Anschließend holte sie mit zitternden Händen die Kiste, die sie von Joshua letzte Nacht in die Hand gedrückt bekommen hatte, hervor, starrte fünf Minuten darauf – hin und her gerissen, ob sie ein paar weitere Texte lesen sollte. Letztendlich entschied sie sich dafür, irgendwas in ihr flüsterte ihr zu, dass die Worte sie trösten würden. Seufzend klappte sie mit klopfenden Herzen eines der Bücher auf und stieß auf einen kurzen Text. Ein kurzer Text war genau das, was sie jetzt brauchte.

Mein Leben ist wie ein Puzzle – wenn man es genauer überdenkt, dann ist das sogar jedes Leben. Und jedes Puzzle hat ein Teil, das entweder perfekt ist oder das ganze Bild in eben nur diesen einen Teil zusammenzufassen scheint. Nehmen wir als Beispiel das Bild einer Katze; das Teil ist ein Auge. Oft ist das Auge in mehrere Teile aufgeteilt, manchmal kommt es jedoch vor, dass das Auge ganz bleibt. Das ist das perfekte Teil, gestochen scharf.
Ich habe lange nach diesem Teil gesucht, bis ich es gefunden habe – und dieses Teil bist du.
Mir ist klar, wie ekelhaft romantisch-kitschig das klingt, aber das ist nun mal die Wahrheit.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht, solange, bis ihr erneut Mageninhalt hochkam und sie zum Fenster stürzte, wo sie alles einfach auf die Straße kotzte. Klatschend fiel es auf den Asphalt und verteilte sich dort spritzerweise. Sie atmete schwer, holte ein paar tief Luft, ehe sie sich ein bisschen besser fühlte und beschloss, einen weiteren Text zu lesen.
Er handelte vom Dämmerlicht und davon, wie sehr es ihn an sie erinnerte, dass sie etwas dunkles, bedrohliches, aber gleichzeitig auch etwas erhellendes, beinahe freundliches an sich hatte. Er handelte vom Nebel, der ebenfalls mit ihr verglichen wurde, da sowohl der Nebel als auch sie Dinge verschleierten und für ein Frösteln sorgte. Er handelte von Feuer und Schnee, davon, dass sich beides irgendwie gegenseitig auslöschen konnte und beschrieb damit die inneren Konflikte, die – immer öfter – in Genevieve stattfanden. Er handelte vom Wind, denn alles an ihr war genauso kurzzeitig und vergänglich, teils erfrischend, teils erschaudernd, war wie ein Lufthauch.
Genevieve versuchte, sich dagegen zu wehren, aber sie musste sich – wenn auch widerwillig – eingestehen, dass seine Worte sie auf eine tiefe Ebene berührten und sie hasste sich selbst und jedes einzelne Wort dafür, gleichzeitig war sie unglaublich erleichtert, denn sie glaubte fest daran, dass diese Bücher ihr bei der Suche nach sich selbst noch nützlich sein würden.
Nachdenklich zündete sie sich eine weitere Zigarette an und überlegte, Joshua anzurufen, ihm zu danken, ihn zu beschimpfen, ihn um Hilfe zu bitten, vielleicht auch alles zusammen – irgendwas, Hauptsache, sie sagte irgendwas zu ihm, aber auch dafür war sie zu stolz.

Nachts um zwei saß sie, immer noch wach, mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett, dachte nach und rauchte bereits ihre zweite Packung. Sie hatte immer wieder, unterbrochen von Erbrechen, das sie sich nicht erklären konnte, die Texte, die sie bereits kannte, durchgelesen – an die anderen traute sie sich irgendwie nicht, aus Angst, dass dadurch alles nur noch schlimmer wurde. Auf den Seiten hatte sich überall Asche verteilt und dort, wo sie versucht hatte, sie wegzuwischen, waren hässlich, grauschwarze Streifen zurückgeblieben.
Irgendwann legte sie sowohl die Bücher, als auch die Kippen weg, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen, während sie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie atmete tief durch, konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ihr war nicht ganz klar, warum und wie es passierte, aber sie spürte, dass aus der langsamen, tiefe, konzentrierten Atmung zunehmend eine flache, unkontrollierte wurde und sie eine Panikattacke hat. Dann beugte sie sich über die Bettkante und übergab sie sich erneut, mitten auf den Teppich. Angewidert würgte sie noch mal und war froh, als nichts mehr nachkam. Sie richtete sich auf – etwas zu schnell, denn ihr wurde kurz schwindelig – und ließ sich, nachdem sich ihr Gleichgewichtssinn wieder beruhigt hatte, erschöpft in die Kissen zurückfallen. Schweigend lag sie eine Weile da, lauschte der Stille und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Doch irgendwann kam ihr diese Stille so unerträglich laut vor, dass sie dachte, sie drehe durch. Um die Stille zu durchbrechen, kramte sie ihr Feuerzeug heraus und ließ es immer klicken. Gedankenverloren betrachtete sie die Flamme und konzentrierte sich auf das leise, fast unhörbare Geräusch, das sie machte, wenn sie auch nur ein wenig flackerte und das in der Stille doch so laut wirkte. Irgendwann wurde auch das langweilig und sie machte sich verzweifelt auf die Suche nach ihrem MP3-Player, den sie nach einer halben Stunde dann auch fand. Sie war einen kurzen Blick auf ihre Uhr und seufzte, als sie feststellte, dass bereits halb fünf war. Für einen Moment dachte sie darüber nach, doch noch mal einen Versuch zu starten und zu schlafen, entschied sich dann aber doch dafür, einen weiteren Tag zu schwänzen. Wen kümmerte das schon? Nachdem sie gelangweilt durch ihre Playlist gescrollt war, beschloss sie, einfach irgendeines der Lieder wahllos anzutippen und dann die Zufallswiedergabe einzustellen. Sie lehnte sich gegen das Ende ihres Bettes und saß dort, mit geschlossenen Augen und hörte der Musik zu. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als ihr bewusst wurde, dass sie sich in der Musik verloren hatte – aber genau zu diesem Zeitpunkt riss sie panisch die Augen wieder auf. Wie in Trance stand sie auf und durchwühlte die Zeitschriften, die sie noch in ihrem Zimmer liegen hatte, und schnitt wie im Wahn aus jedem Zeitungsartikel jedwede Form von dem Wort „verlieren“ aus. Anschließend klebte sie die Schnipsel auf Blätter und hängte sie über ihr Bett an die Wand. Mit offenem Mund starrte sie ihr Werk an, während sie sich fragte, warum sie das getan hatte. Dann griff sie, ohne groß nachzudenken, zum Handy und wählte Joshuas Nummer. Während sie darauf wartete, dass er abhob, spürte sie Tränen in ihren Augen brennen. „Ja-allo?“, nuschelte es ihr entgegen. „Kommst du bitte her?“, fragte sie leise, um nicht zeigen, dass sie im Inbegriff war, jeden Moment loszuflennen. Am anderen Ende tutete es einfach nur und Genevieve hoffte, dass Joshua wirklich zu ihr kam und allein für diese Hoffnung – eine weitere Emotion, die noch am helllichten Tag über sie hereingestürzt war – verachtete sie selbst. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild, das ihr plötzlich unerträglich vorkam, und wie ferngesteuert griff sie zum Feuerzeug, lief zum Spiegel und ließ direkt davor die Flamme tanze, solange, bis die Oberfläche verrußt war und sie ihr Spiegelbild nicht mehr ertragen musste. Kaum war ihr Spiegel „blickdicht“, hörte sie, wie jemand – ganz klischeehaft, wie im Film – Steine gegen ihr Fenster warf. Sie öffnete das Fenster und wich gerade noch so einem Stein aus, der ihr entgegengeflogen kam. „Verdammt, Genevieve, mach die verdammte Tür auf!“, rief Joshua leise und sie konnte nicht anders, als ihr kaltes, spöttisches Lächeln aufzulegen, wie um zu verbergen, dass sie kurz zuvor fast geweint hätte. Sie zögerte das Ganze noch für ein paar Sekunden hinaus und genoss es, auf Joshua - der wild fluchend drängte, dass sie ihm die Tür aufmachen sollte - im so herunterblicken zu können, bis sie sich schließlich umdrehte und ihm leise die Tür öffnete. Jetzt war Joshua, der, da er einen ganzen Kopf größer war als sie, auf sie herunterblickte und sie dabei frech angrinste. „Geht doch“, flüsterte er und wollte sich zu ihr runterbeugen – Genevieve vermutete, dass er sie erneut küssen wollte – doch sie wandte sich ab und marschierte wortlos in ihr Zimmer, dicht gefolgt von ihrem Besuch, der, als er ihr Zimmer betrat, leise durch die Zähne pfiff. Schnell schloss Genevieve ihre Tür, denn sie wollte ihre Eltern nicht wecken. Joshua redete nun in einer normalen Tonlage und sagte nur: „Nicht schlecht.“ Er drehte sich einmal im Kreis und zog die Augenbrauen hoch, als er Genevieves Spiegel entdeckte und zusammen, als er die Collage von Schnipsel über ihrem Bett sah. Dann bemerkte er ihre Kotze. „Oh“, entfuhr es ihm und blickte sie an, sein Blick schrie förmlich nach einer Erklärung, doch sie schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn provozierend an. „Hör auf damit.“, sagte er ruhig. Irritiert blinzelte sie ihn. „Was?“, fragte sie, ein wenig aus der Fassung gebracht. „Hör auf, mich so anzugucken. Das mag vielleicht bei allen anderen gebracht haben, aber ich hab dich in Situationen gesehen, die mir niemand geglaubt hätte. Also lass das. Das bringt nichts.“ Genevieve seufzte und ließ die Arme sinken. Für einen Moment herrschte wieder Schweigen, dann platzte Genevieve plötzlich, wenn auch leise, heraus: „Du machst mich schwach. Gott, wie ich das hasse.“ Sie schlug die Augen nieder, um nicht seinen Gesichtsausdruck ertragen zu müssen, der vermutlich voller Triumph war. Doch als sie plötzlich seine Hand an ihrem Arm spürte und hochsah, entdeckte nur Sorge in seinem Gesicht und das war noch schlimmer. „Verdammt, wieso bist du nur so…?“ Sie suchte nach dem passenden Wort, versagte dabei aber völlig – Worte waren seine Welt und dafür bestimmt, von ihm ausgesprochen zu werden. Ihre Aufgabe war es schlicht und einfach, die Worte aufzunehmen und schätzen zu wissen, zu mehr war sie einfach im nicht imstande. Bisher war es immer okay für sie gewesen, aber jetzt, als sie die Bücher, die Joshua so betrachtet über und für sie geschrieben hatte, fand sie es schrecklich quälend. Joshua lächelte nur schief. „Wieso sollte ich nicht so sein?“, lautete seine Gegenfrage. Wütend starrte sie ihn an. „Hör mal, ich bin der schlimmste Mensch, den ich kenne – den irgendwer kennt. Wieso bist du also hier? Was soll das? Eigentlich gehöre ich nicht zu denen, die rumjammern, sie hätten dieses und jenes verdient, aber dieses Mal muss ich das leider sagen. Es kann nicht sein, dass jemand so ekelhaftes wie ich, jemanden, der so…“, angestrengt suchte sie erneut nach einem passenden Wort - das ihr dann von Joshua geliefert wurde: „Verzeihend“ – was jedoch alles ruinierte. „Ja, genau, danke. Also, der so verzeihend ist wie du, verdient. Das ergibt keinen Sinn.“ Genevieve ignorierte Joshuas Hand, die von ihrem Arm hinunter zu ihrer Hüfte glitt, ehe er leise sagte: „Manchmal müssen die Dinge keinen Sinn ergeben.“ Dann blickte er sie ernst, treu und dennoch mit einem Hauch von Frechheit an, bevor er sie küsste – schon wieder. Doch diesmal reagierte sie nicht und ließ es einfach geschehen. Es war ihr egal. Sollte er doch, sie war zu erschöpft, um ihn von sich zu stoßen. Dieser Moment, der vermutlich nicht mal eine Sekunde gedauert hatte, kam ihr endlos vor und es verwirrte sie, brachte sie nur noch mehr durcheinander. Nachdem sich Joshua von ihr gelöst hatte – das Einzige, was Genevieve dachte, war das Wort „endlich“ – sah er sie für einen Moment nachdenklich an. Dann drehte sie sich weg von ihm, als wäre es ihr peinlich und verbiss sich ein Lachen, als sie im Augenwinkel seinen Schrecken bemerkte. „War es…“, setzte er an, war aber so heiser, dass er sich räusperte und noch mal von vorne anfing: „War es so schlimm?“ Die Unsicherheit in seiner Stimme sorgte dafür, dass in Genevieve wieder ihre gewohnte Seite aufkeimte und erneut ein innerer Konflikt in ihr ausgelöst wurde. Sie fühlte sich wieder mächtig und hatte das Gefühl, wieder die volle Kontrolle zu haben – über sich, über ihn, schlichtweg über alles. Mit ihrem herzlosen Lächeln wandte sie sich wieder an ihn. „Wenn ich ehrlich bin, mochte ich es.“ Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit, doch sie zerstörte alles mit einem einzigen Wort: „Aber“ Sie legte eine Kunstpause ein, ehe sie sagte: „Aber mehr würde ich trotzdem nicht wollen. Du lediglich dazu da, mir Worte zu liefern, okay? Mehr nicht.“ Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen wieder und sie konnte nicht umhin, als befreit aufzulachen. „Tut mir leid.“, sagte sie dann ernst und meinte es auch so. „Ich mochte es. Ich will trotzdem nicht mehr davon. Aber du bist trotzdem mehr als nur ein Wortlieferant. Ob du’s glaubst oder nicht, aber ich brauche dich.“ Jetzt war sie an der Reihe, schief zu lächeln. Dann schob sie noch ein „Gott, ich kann nicht fassen, dass ich das gesagt habe.“ Hinterher, redete dabei aber eher mit sich selbst als mit ihm. Joshua lachte hell auf und Genevieve lief für einen Moment rot an, hoffte aber, dass man es im Dunkeln der Nacht nicht sah. Er senkte ein wenig die Stimme, dann sagte er: „Das hast du schön gesagt.“ Schließlich klatschte er einmal kurz in die Hände, sagte, wieder in normaler Lautstärke: „Also, warum hast du mich angerufen?“ Es kostete sie eine Menge Überwindung und sie holte mehrmals tief Luft, bis sie schließlich herausbrachte: „Hilf mir, mich selbst zu finden.“ Schnell hängte sie noch ein „Bitte“ hintendran. Verdutzt starrte er sie an. „Hast du gerade „Hilf mir“ gesagt?!“, wollte er sich vergewissern und sie nickte, wenn auch nur widerwillig. „Wahnsinnig“, hauchte er, völlig fasziniert von dieser Tatsache. Immer wieder murmelte er Dinge wie „Wow“ und „Ich fass es nicht“. „Ja ja, ist gut, halt die Klappe.“, fuhr sie ihn schließlich an und ignorierte sein Grinsen. „Warst du schon mal im Wald?“, fragte er. „Was?“, entgegnete sie verwirrt. „Ob du schon mal im Wald warst, hab ich gefragt.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen, die ihm deuten sollten, dass er wohl nicht ganz dicht war, antwortete sie ihm: „Natürlich.“ „Warst du richtig drin oder bist du nur durchgelaufen – und ich rede jetzt von Wegen.“, hakte Joshua nach. „Hä?“, war das Einzige, das Genevieve von sich gab. „Hast du dich jemals in den Wald gestellt und einfach alles auf dich wirken lassen? Jedes Geräusch gehört, jeden Sonnenstrahl, der sich durch die Blätter durchgewunden hat, durch deine geschlossenen Lider gesehen, jeden Geruch gerochen, jeden Windhauch auf deiner Haut gespürt?“ Zweifelnd blickte sie ihn für einen Moment an, dann seufzte sie: „Nein, hab ich nicht.“ „Solltest du!“, rief Joshua fröhlich und geschäftig. „Bitte?“, platzte es aus Genevieve heraus und ließ ihre Zweifel diesmal deutlich hören. „Wie spät ist es?“, erkundigte sich der Junge eifrig und überging sie einfach. „Halb sieben“, seufzte sie – sie hatte bisher nicht auch nur eine Sekunde geschlafen. „Ich schlage vor, wir legen uns ’ne Runde hin und dann fahr’ ich mit dir in den Wald, okay?“, schlug Joshua vor. „Meinetwegen.“ Genevieve zuckte mit den Schultern. „Bleibst du hier?“, fragte sie dann, wusste aber, dass es eher wie eine Bitte klang – eine Bitte, auf die er liebend gern einging, das war ihr bewusst. „Klar“, grinste er. Dann warf er sich ungefragt auf ihr Bett und grinste sie noch breiter an. „Komm!“, lockte er. „Wenn du dich an mich ranmachst, brech’ ich dir die Nase!“, drohte sie und wischte noch schnell ihre Kotze auf, bevor sie sich neben ihn legte. Bevor sie einschlief, murmelte sie: „Wir werden gute Freunde, das weiß ich.“

Als sie aufwachte, war Joshua verschwunden. Das Einzige, das auf seine Anwesenheit hindeutete, war die Nachricht, die er im Ruß aus ihrem Spiegel hinterlassen hatte.

G,
ruf mich an, wenn du wach bist,
damit wir in den Wald können.
J

P.S.: Keine Ahnung, ob’s
wichtig ist, aber ich wollte
dir sagen, dass Worte nicht
beschreiben können, wie
sehr ich dich liebe.

Sie brummte, dann wischte sie das P.S. weg, es schien ihr zu surreal. Jetzt stand dort lediglich nur noch, dass sie ihn anrufen sollte. Und das tat sie dann auch. „Schon wach?“, neckte er sie und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass schon zwei Uhr mittags war. „Ja“, entgegnete sie und klang dabei missmutiger als sie wollte. „Ach komm schon“, sagte er und irgendwas an seiner Stimme wirkte, als ob er diesen Satz schon hundert Mal gesagt hätte, als ob er jahrelang als Motivationstrainer gedient hatte und das nun einer dieser Sätze war, die er nie wieder loswurde. Genevieve seufzte. „Ich bin in einer halben Stunde da, okay?“ Ohne eine Antwort abzuwarten beendete sie das Gespräch, verzichtete aufs Duschen und machte sich dann fertig, um dann eine halbe Stunde später vor Joshuas Tür zu stehen, der diese, nachdem sie geklingelt hatte, begeistert aufriss. „Hey“, sagte er und grinste. „Würdest du das bitte mal lassen?“, fauchte sie genervt und verdrehte die Augen. „Was soll ich lassen?“, fragte Joshua sichtlich verwundert und nickte dann, nachdem Genevieve eine Grimasse, die ein übertriebenes Grinsen darstellen sollte, schnitt. „Ich werd’s versuchen“ Sein Grinsen war diesmal pure Absicht und sie hatte das Gefühl, ihn erwürgen zu müssen. „Gehen wir?“, fragte er dann und sie nickte, wenn auch plötzlich etwas verunsichert.

Kurz darauf standen sie zusammen im Wald, mitten zwischen den Bäumen, abseits von den Wegen. „Mach die Augen zu“, sagte Joshua leise, als ob er Angst hätte, die Atmosphäre mit seiner Stimme zu zerstören. Doch Genevieve weigerte sich wie ein trotziges Kind und schob ihren Schuh in gelbbraune Blätter, die ersten in diesem Jahr, wie um zu verdeutlichen, dass sie nicht wollte. „Nur, wenn du anfängst“, forderte sie, ohne zu wissen, warum sie das tat. Er seufzte verständnislos auf, dann schloss er die Augen. Irgendwas an der Art, wie er da stand und so völlig im Einklang mit sich und seiner Umwelt zu sein schien, faszinierte und beruhigte sie, sie unterdrückte ein Aufseufzen, als ihr klar wurde, wie schön dieses Bild war. Dann schloss auch sie ihre Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, was er sie nachts noch gefragt hatte. Jedes Geräusch gehört…jeden Sonnenstrahl durch geschlossene Lider gesehen…jeden Geruch gerochen…jeden Windhauch gespürt…
Sie konzentrierte sich auf jeden Vogel, der sang, in Bäumen herum sprang oder lautstark herumflog jedes kleine Blätterrascheln, das durch einen winzigen Windhauch verursacht wurde. Die Sonnenstrahlen, die durch die dünne Haut ihrer Augenlider drang, sorgten dafür, dass alles, was sie sah, eine lilafarbene Fläche war. Die Brise, die durch ihr Gesicht strich, kitzelte sie und sie lächelte. Sie atmete tief durch und sog beinahe gierig die Gerüche ein, die auf sie einströmten, sie war ganz berauscht von den Eindrücken, die auf sie einstürzten. Plötzlich hörte sie ein Rascheln direkt neben sich und sie riss die Augen auf. Joshua lachte leise auf. „Alles okay. Nur ich.“ Giftig sah sie ihn an. „Wie war’s?“, fragte er und prüfte erwartungsvoll ihr Gesicht, doch sie achtete darauf, dass sich nichts darin regte. „Es war schön“, sagte sie, nachdem sie kurz geschwiegen hatte. „Aber irgendwie sinnlos. Wie soll das helfen, dass ich mich wiederfinde?“, diesmal konnte sie die Zweifel in ihrer Stimme nicht verbergen. „Du musst das mehrmals machen. Solange, bis du das Gefühl hast, mit dem Wald zu verschmelzen.“, erklärte er und sie tippte sich an die Stirn. „Ja, klar. Irgendwann bin ich ein Baum.“ Ein wenig gekränkt blickte er sie an. „Dann halt nicht“, murmelte er, beinahe etwas enttäuscht. Genevieve wusste nicht, warum genau sie das tat, aber plötzlich fand sie ihre Hand auf seiner Schulter und hörte sich selbst, wie sie ihn fragte: „Hey, was ist los?“ Eine Spur Kummer spiegelte sich in seinen Augen wieder, als er sagte: „Nichts, es…es ist alles okay.“ Genevieve wollte die Wahrheit erfahren, wollte, dass er mit ihr redete, dass er ihr gegenüber genauso schwach war, wie sie ihm – doch ihr gewohnte, ihr so vertraute Seite gewann wieder die Oberhand. Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern und sagte nur: „Okay.“ Verwundert sah er sie an, sagte aber nichts. „Lass uns wieder gehen, es wird kalt.“, sagte sie und schlang die Arme um sich, als der Wind auffrischte – es wurde eindeutig Herbst. Joshua schwieg weiterhin, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie einfach mit sich, für einen Moment wollte sie sich wehren, ließ es dann aber bleiben. Irgendwie fühlte sie sich gut, als sie seinen Arm um sich spürte.

Die Tage vergingen und Joshua suchte emsig nach einer Möglichkeit, ihr bei ihrer Selbstfindung zu helfen. Doch Genevieve verkroch sich tagelang im Bett, fälschte Arztatteste, damit sie entschuldigt daheim bleiben konnte und hoffte, dass das alles bald ein Ende hatte und sie sich einfach, ohne jegliches Zutun wiederfinden würde. Ihre Hoffnung steckte sie ihn Joshuas Worte, die immer öfter begleiteten. An manche Texte traute sie sich immer noch nicht heran, sie wusste nicht einmal, weshalb. Und sie rauchte mehr. Wesentlich mehr.
Als der erste Schnee gefallen war, hatte sie ihren kompletten Zigarettenvorrat aufgeraucht und musste sich neue besorgen. Es widerstrebte ihr, nach der ganzen Zeit, in der sie immer in ihrem Zimmer geblieben war, plötzlich wieder raus zu gehen, aber sie hatte keine andere Wahl. Gerade, als sie durch die Tür war, kam ihr Joshua entgegen. „Ich glaube, ich hab was gefunden!“, rief er aufgeregt. Genevieve verdrehte die Augen. „Soll ich dir mal was sagen? Ich hab da keine Lust mehr drauf. Dann hab ich mich eben verloren. Ich find mich auch so schon wieder, irgendwann. Was bringt es schon, zwanghaft nach mir zu suchen? Suchst du etwa zwanghaft nach einem besten Freund?“, entgegnete sie schlecht gelaunt – sie brauchte dringend Nikotin. Joshua sah aus, als hätte man ihm einen Schlag in den Magen verpasst. „Irgendwie hast du ja recht, aber…“, stimmte er ihr zu, nur, um ihr dann zu widersprechen: „das ist was völlig anderes!“ Genevieve lachte. „Weißt du, eigentlich ist mir das im Moment egal. Ich brauch’ Kippen!“, sagte sie anschließend und drängte sich dann an ihm vorbei und bewegte sich in Richtung des nächstgelegenen Zigarettenautomaten. „Jetzt warte doch mal!“, rief Joshua, schier verzweifelnd, rannte ihr hinterher und holte sie schließlich ein. Er packte sie am Arm, doch sie riss sich los und fuhr ihn an: „Ich habe Nein gesagt. Was verstehst du daran nicht?“ „Aber…ich dachte, du willst dich wiederfinden!“, platzte es aus ihm heraus, teils verständnislos, teils verzweifelt. „Meinungen ändern sich. Und jetzt nerv’ mich nicht!“, fauchte sie, lief weiter, holte sich ihre Zigaretten und lief auf dem Rückweg einfach an Joshua vorbei, der stehen geblieben war.

Gedankenverloren stand sie am offenen Fenster und blies den Rauch ihrer Kippe hinaus in die kalte Herbst-Winter-Luft. Auf dem Fenstersims hatte sich bereits eine dünne, blendend weiße Schicht aus Schnee abgelegt und die winzigen Ascheflocken der Tabakstange wirkten in dem Weiß so schwarz und falsch, wie Genevieve sich zurzeit fühlte – irgendwie schwarz, irgendwie falsch. Und während sie versuchte, diesen Gedanken in schöne Worte – so, wie Joshua es getan hätte – zu verpacken, merkte sie, dass sie sich genau so, wie sie sich fühlte und mit den Dingen, die sie tat, wohlfühlte. Beinahe verzweifelt versuchte sie, sich einzureden, dass sie die ganze Zeit falsch gelegen und sich selbst doch schon längst in der Rolle der spöttischen, kalten, kontrollsüchtigen, mächtigen Zicke gefunden und einfach nur eine kleine Krise durchlebt hatte – doch innerlich wusste sie, dass sie falsch lag. Das Ganze frustrierte sie so sehr, dass sie ihre Zigarette, die noch nicht mal zur Hälfte aufgeraucht war, einfach aus dem Fenster schleuderte. „Au!“, schrie da jemand. „Joshua!?“, rutschte es ihr überrascht heraus. „Ich steh die ganze Zeit schon hier und versuch, irgendwie auf mich aufmerksam zu machen, verdammt!“, fluchte er. „Und jetzt mach gefälligst auf, mir ist kalt!“ Genevieve schnaubte, dann öffnete sie ihm die Tür und ließ ihn rein. „Schwänzt du eigentlich?“, fragte er sie, als er in ihrem Zimmer stand. „Nicht direkt“, sagte sie zuckersüß. Neugierig zog er eine Augenbraue hoch. „Hab ’n paar Atteste gefälscht und schon muss ich nicht mehr in die Schule.“ Bewundernd pfiff er durch die Zähne. „Nicht schlecht“, nickte er anerkennend. „Hast du dich jetzt beruhigt oder ist dir das alles immer noch so egal?“, erkundigte er sich dann. „Egal ist es mir immer noch, aber ich bin bereit, mir das mal anzugucken.“, gab sie zu. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er hielt ihr einen Stapel Papier unter die Nase. „Was ist das?“, die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme wurde von einer hochgezogenen Augenbraue begleitet. „Es geht um Reisen. Work’n’Travel und so was.“ „Bitte?“, prustete sie heraus. „Hör mal, das mit dem Wald hat schon nicht geklappt, da wird das wohl kaum mehr bringen“, sie grinste und unterdrückte einen Lachanfall, aber die Belustigung ließ sie dennoch deutlich heraushören. Joshua verdrehte die Augen. „Mensch, ich hab echt das Gefühl, dass es dir gefällt, so völlig verloren zu sein!“, brüllte er dann, ganz unerwartet. „Ja und? Dann gefällts mir eben, das ist doch mein Problem und nicht meins!“, schrie Genevieve zurück. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen an, die in ihr hochstiegen – sie wollte nicht, dass er sie anschrie, noch nie, oder zumindest, soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie jemand angeschrien, es war immer ihr ‚Privileg’ gewesen, rumzuschreien. „Kannst du mal aufhören, mein ganzes, beschissenes Leben durcheinanderzubringen?“, brüllte sie weiter. Joshua starrte sie wortlos an. „Wie bitte?“, sagte er und seine Stimme war fast nur noch ein Flüstern. Doch sie konnte nicht reden, sie wusste, dass sie auch nur ein Wort sagen musste und die Tränen würden nicht mehr zurückzuhalten sein, also starrte sie ihn einfach nur an, bis er ging und die Tür hinter sich zuschlug. Zeitgleich mit dem Knall hatte Genevieve das Gefühl, dass sich in ihr ein Rohr platzte und damit ihren Tränen freien Lauf ließ. Sie weinte, schrie und jammerte – noch zu genau erinnerte sie sich daran, dass sie das bereits schon mal getan hatte, ebenfalls seinetwegen. „Gott, wie ich das hasse“, schluchzte sie immer wieder, während sie in sich zusammensank und schließlich auf dem Teppich einrollte. Dort schlief sie nach einer Weile ein.
Die Albträume plagten sie wieder. Dunkelheit. Fesseln. Menschen, die aufschrien. Joshua wurde wieder verschlungen, doch dieses Mal kam er nicht mehr zurück und Genevieve versuchte, sich einzureden, dass ihr das nichts ausmachte, dabei wusste sie, dass sie sich selbst belog.
Als sie aufwachte, zitterte sie, ihr war kalt und sie seufzte, als sie merkte, dass das Fenster noch offen war. Fröstelnd schloss sie es und legte sich dann ins Bett, um weiterzuschlafen, trotz der Angst, wieder in einen ihrer Albträume zu verfallen. Doch diesmal wälzte sie sich einfach nur hin und her, sie schlief nicht mal wirklich, sondern presste nur ihre Augen zusammen, während sie versuchte, sich einzureden, dass sie es tat. Irgendwann hatte sie genug. Wie in Trance holte sie die Kiste mit den Büchern hervor, las ein paar der Texte, die bis dato vor ihren Augen verborgen geblieben waren und sie wurde von Tränen, die sie dann doch nicht weinte, geschüttelt. Wütend schleuderte sie es durchs Zimmer und hörte die dumpfen Aufpralle, als es erst gegen die Wand stieß und dann auf den Boden fiel. Dann richtete sie sich auf ihrem Bett auf – die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach und brachte sie kurz ins Schwanken – und riss, den Drang, lauthals loszuschreien, unterdrückend, die Collage, die sie noch vor ein paar Wochen dort aufgehängt hatte, herunter. Sie zerriss sie kleinere Stücke und als sie das Gefühl hätte, dass sie ihr Schreien nicht mehr unterdrücken könnte, biss sie aus lauter Verzweiflung hinein, solange, bis der Drang weg war. Schwer atmend ließ sie das Papier sinken und sah sich, völlig benommen, um. Ihr Blick fiel auf ihren Spiegel und blind vor Wut, die ihr immer noch unerklärlich war, stürzte sie sich darauf und zertrümmerte ihn. Die Scherben schnitten ihr während des Schlages in die Fingerknöchel und beim Herunterfallen in die nackten Füße, doch das spürte sie nicht. Das einzige, das sie spürte, war das Blut, das an den Schnittstellen pochte und ihr durch die Ohren rauschte und sie spürte ihr Herz, das durch den Adrenalinschub schneller schlug. Keuchend sah sie die vielen Scherben und Splittern, die im Licht des Halbmondes, der direkt in ihr Zimmer schien, glitzerten. Fassungslos betrachtete sie, was sie getan, dann brach sie zusammen – erneut. Sie hasste es. Sie hasste die Tränen, die Schwäche, die Gefühle, all diese Dinge – und noch so vieles, an das sie noch nicht mal denken wollte – hasste sie. Als sie sich die Tränen wegwischte, spürte sie das Blut, dass sie dabei in ihrem Gesicht verteilte. Kurzerhand öffnete sie das Fenster und griff nach dem wenigen Schnee, der dort lag und versuchte, sich damit sowohl ein bisschen zu waschen, als wieder runterzukommen. Am Ende hatte sie eine rosafarbene Flüssigkeit in ihren Händen, die sie aus dem Fenster tropfen ließ. Für einen Moment dachte sie darüber nach, Joshua anzurufen, war jedoch zu stolz dazu, außerdem wusste sie nicht, ob er noch sauer auf sie war und erst recht nicht, ob sie selbst noch wütend auf ihn oder ob der Wutanfall zuvor andere Ursachen hatte. Letztendlich kam sie zu dem Schluss, dass sie gar nichts mehr wusste, was sie nur noch mehr frustrierte. Verzweifelt seufzend versteckte sie ihr Gesicht hinter ihren Händen, während sie sich an ihrer Wand herunter gleiten ließ und kämpfte erneut gegen Tränen. Dann fasste sie einen Entschluss.

Am nächsten Tag ging sie wieder in die Schule. Ihr typisches mit Spott gespicktes Lächeln rutschte ihr nicht von den Lippen und sie steuerte zielsicher auf ein Mädchen zu. „Chloe“, sagte sie, aber es klang eher wie eine Feststellung. Das Mädchen wandte sich zu ihr und Genevieve hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, so berauscht war sie von der Schönheit ihres Gegenübers. „Genevieve“, erwiderte Chloe, jedoch freundlich und beinahe fragend. Genevieve konnte nicht anders, als sie zu mustern und sie war froh, dass sie öfters Menschen einfach stumm ansah, teilweise ziemlich lange. Das Auffälligste an Chloe war ihre Nase – die Spitze war verlief nach oben und wäre die Nase nicht lang und schlank gewesen, hätte sie wie eine Schweinsnase gewirkt. Genevieve fragte sich, von wie vielen das Mädchen wohl allein dieser Nase wegen beneidet wurde. Sie hätte Stunden damit verbringen können, ihr Gegenüber anzusehen, doch sie wusste, dass sie nun etwas sagen musste: „Hast du Lust, mit mir in die Cafeteria zu gehen?“ Chloe schien überrascht, willigte dann aber ein.
Auf dem Weg zur Cafeteria begegneten sie Joshua, der sie irritiert anstarrte, doch Genevieve schenkte ihm nur ein kurzes Lächeln, das alles hätte bedeuten können.

Als die beiden Mädchen in der Schlange anstanden, um sich einen Kaffee zu holen, sagte Chloe plötzlich: „Geh schnell aufs Klo, ja? Hältst du mir einen Platz frei?“ Genevieve nickte. Kaum war Chloe verschwunden, tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie fuhr herum. „Was machst du hier? Und wieso ziehst du schon wieder deine…Masche ab?“, fragte Joshua leise, aber scharf. Genevieve jedoch zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Warum nicht?“ „Verdammt, Genevieve. Was ist nur los mit dir?“, fluchte er, immer noch leise. Sie spürte, dass etwas in ihr ganz langsam anfing, weich zu werden. Aber das konnte sie sich jetzt nicht leisten. Nicht hier, vor der halben Schule. Generell. Nie wieder. Und doch wusste sie, dass sie wohl immer einknicken würde, sobald Joshua sich länger als drei Sekunden in ihrer Nähe aufhielt, denn dazu hatten die beiden zu viel Zeit miteinander verbracht, in der beide – wenn auch sie mehr als er – Schwäche gezeigt hatten. So war es jetzt auch. Sie wollte gleichgültig und herzlos wirken, doch sie bemerkte erneut den Kummer in seinen Augen, wie damals, im Wald, als er sie in gewisser Weise gezwungen hatte, jeden ihrer Sinne vollkommen frei zu machen für die Eindrücke des Waldes. Alles in ihr schrie danach, ihn zu umarmen, ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, ihn zu fragen, warum er so ausflippte – doch das alles blieb ihr verwehrt, denn dann würde ihr innerhalb von wenigen Sekunden ihr gesamter Ruf, alles, was sie sich jahrelang mühsam erarbeitet hatte, entgleiten und das konnte und wollte sie nicht riskieren. Fieberhaft dachte sie darüber nach, wie sie noch mit ihm reden könnte, ohne, dass sie dabei um ihr Image fürchten musste. Dann hatte sie eine Idee. „Ruf mich an, heute Mittag, klar?“, sagte sie, es klang wie eine Drohung – für jeden also ganz gewohnt. Doch während sie so herzlos sprach blickte sie ihm in die Augen, so ernst und beinahe besorgt, dass es ihr selbst weh tat. Niedergeschlagen nickte Joshua und schlich dann davon. Sobald er weg war, tauchte Chloe wieder auf, wofür Genevieve sehr dankbar war, denn sie wusste nicht, ob sie auch nur Sekunde alleine durchgehalten hätte, ohne durchzudrehen, so viel schwirrte ihr im Kopf herum. Sie wünschte sich ihr Leben zurück – das, das sie gelebt hatte, bevor sie mit Joshua Kontakt aufgenommen hatte. Das, in dem sie sich nicht fragen musste, wann sie sich selbst wie und wo am besten finden konnte, ohne etwas dafür zu tun, obwohl ihr klar war, dass das nicht von alleine passiert. Das, in dem sie nicht schwach wurde, egal, ob sie dabei alleine oder in Gesellschaft war. Das alles wünschte sie so sehr zurück, dass sie vergaß, ihren Kaffee extraheiß bestellte, in der Hoffnung, dass der Schmerz ihrer verbrannten Zunge alles betäuben würde.

Fünf Minuten, nachdem die Schule aus war, rief Joshua sie an. „Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, war das Erste, was er sagte. „Was mit mir los ist? Keine Ahnung, verdammt.“, murmelte sie und war sich nicht sicher, ob er sie gehört hatte. „Mann, Genevieve.“, war Joshuas einziger Kommentar. Sie schwieg eine Weile, dann brach aus ihr das heraus, was ihr bereits die ganze Zeit auf der Zunge lag: „Und was ist mit dir los?“ „Was meinst du?“ Genevieve war froh, dass Joshua sie jetzt nicht sehen konnte, denn sie zog zweifelnd die Augenbrauen hoch und verdrehte die Augen. „Du machst wegen jeder Kleinigkeit eine Riesenszene und führst dich sonst wie auf“, klärte sie ihn auf. „Das…das fragst du noch!?“, stammelte er fassungslos. „Ja, tue ich“, fauchte sie gereizt. „Bist du wirklich so…blind?“, fragte er weiter. „Anscheinend“ „Verdammt, Genevieve, du hast doch meine Texte gelesen!“, rief er aus, Verzweiflung durchflutete seine Stimme. „Und?“, erwiderte sie verwirrt und genervt. „Wie blöd muss man eigentlich…?“, setzte er an, verstummte dann aber abrupt. „Wie bitte!?“, keifte sie. „Oh, das wirst du bereuen, glaub mir. Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, ich werde dafür sorgen, dass du leiden wirst, mein Lieber, das verspreche ich dir!“ Nachdem sie ihre Drohung verkündet hatte, legte sie ohne weiteres auf. Sofort klingelte ihr Handy los, doch sie ignorierte es. Dieser Vorgang wiederholte sich einige Mal, bis Joshua aufzugeben schien. Doch dann kam im Fünf-Minuten-Takt eine SMS nach der anderen. Genevieve schaltete ihr Handy schließlich aus.

Zuhause rauchte sie in drei Stunden eine Schachtel Zigaretten auf – sie rauchte schnell, ungeduldig, wütend. Jede Zigarette schleuderte sie frustriert aus dem Fenster und etwas in ihr hoffte, dass ein Schmerzensschrei ertönte, so, wie es kurz zuvor noch passiert war – aber nichts geschah. Seufzend schaltete sie ihr Handy an und las die Nachrichten, die Joshua ihr geschickt hatte. Er entschuldigte sich bei ihr, flehte sie an, ihn einfach in Ruhe zu lassen – und schrieb ihr, schwarz auf weiß, was er für sie empfand und, dass das eigentlich offensichtlich war. Beinahe angewidert ließ sie das Handy auf ihr Bett fallen, während sie sich darauf niederließ. Nichts und niemand hatte sie je wirklich geliebt, nur bewundert oder gefürchtet. Sie bezweifelte, dass diejenigen, die ihr Liebesbriefe schickten, sie wirklich liebten, aber, so wie Joshua es beschrieben hatte – sowohl in seinen Nachrichten, als auch in seinen Texten, das wurde ihr nun schlagartig zum ersten Mal so richtig bewusst – wirkte es irgendwie echt. So echt, dass es ihr Angst machte. Umso größer wurde ihr Wunsch, sein Leben durcheinander zu bringen. Gedankenverloren starrte sie in die Luft und dachte darüber nach, wie sie das wohl anstellen würde – denn dass sie das nicht spontan durchziehen konnte, war ihr klar. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es schien ihr unmöglich, einen klaren Gedanken fassen zu können, zu sehr dröhnte der Gedanke, jemanden zu verletzen, dem sie anscheinend so viel bedeutete, in ihrem Kopf. Entmutigt vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen, hatte es ihr doch auch sonst nie etwas ausgemacht, andere zu verletzen. Warum ausgerechnet jetzt, wenn es um Joshua ging? Was ließ sie so sehr an ihrem Vorhaben zweifeln, dass sie immer öfter darüber nachdachte, einfach alles über Bord zu werfen? Dann hatte sie eine Idee, wie sie sein Leben etwas ins Wanken bringen konnte, ohne den Kummer in seinen Augen ertragen zu müssen. Sie sprang auf, packte ein paar wenige Sachen in einen Jutebeutel und kritzelte eine kurze Nachricht – „Ich bin gegangen, dank Joshua“ – auf einen Zettel, vermerkte seine Handynummer darunter und verließ dann das Haus.
Als sie auf der Straße stand, wurde ihr erst klar, dass sie gar nicht darüber nachgedacht hatte, wohin sie eigentlich wollte. Dann hatte sie eine Idee und machte sie auf, in Richtung Joshuas Haus. Dort angekommen schlich sie sich in den Schuppen, der, laut Joshua, seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. So konnte sie sich ungestört verstecken, ihn aber auch gleichzeitig beobachten.
 Denn auch, wenn sie es nicht ertragen würde, ihm in die Augen zu sehen, während die Gerüchte an ihrer Schule ihren Lauf nehmen würde, wollte sie es sich nicht entgehen lassen, dabei zuzusehen, wie er sich dadurch veränderte. Trotz allem – ihren Gefühlsausbrüchen, ihrer Schwäche – hatte sie noch immer das Gefühl, dass der Schmerz anderer sie tief im Inneren befriedigen würde, vielleicht würde sich das niemals ändern.
Nachdem sie sich eingerichtet hatte, überlegte sie, was sie tun könnte, als sie plötzlich Schritte hörte. Ganz vorsichtig öffnete sie die Tür des Schuppens minimal, so, dass sie durch einen Spalt alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Joshua hatte den Kopf gesenkt und blieb für einen Moment mitten in der Auffahrt stehen, vergrub den Schuh ein paar Mal in dem bisschen Schnee, der noch da lag und murmelte irgendwas vor sich hin, dann ging er ins Haus. Plötzlich fühlte sich Genevieve unendlich einsam und ihr Magen zog sich zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie das wohl solange sein würde, bis sie sich bemerkbar machte. Für einen Moment kämpfte sie gegen den Drang an, loszuheulen und aus dem Schuppen zu stürmen, sie hatte die Einsamkeit satt. Doch sie blieb regungslos, starrte noch ein paar Minuten gedankenverloren in die Kälte hinaus, dann schüttelte sie den Kopf und schloss die Tür wieder. Sie ließ sich auf ihrem Deckenlager nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, legte den Kopf in den Nacken und schlang die Arme um ihre herangezogenen Beine. Für eine Weile verharrte sie in dieser Position, bis sie merkte, dass ihre eine Träne über die Wange rollte. Wütend wischte sie sie weg und bläute sich ein, dass sie nicht losweinen würde. Nicht jetzt. Nicht an diesem Ort. Niemals wieder. Noch während sie gegen weitere Tränen ankämpfte, merkte sie, dass sie müde wurde – im Schuppen war es dunkel, jedoch nicht so dunkel, dass sie Panik bekam, und sie konnte die Tageszeit nicht richtig einschätzen. Und während sie so dasaß, gegen Tränen ankämpfte und sich fragte, wann Joshua das Haus wohl wieder verlassen würde, schlief sie ein.
Sie träumte wieder ihren Albtraum, doch dieses Mal hatte sie das Gefühl, dass es schlimmer war als je zuvor. Sie schrie lauter, trat um sich, versuchte erfolglos, sich loszureißen – und wurde durch das plötzliche Aufreißen der Schuppentür geweckt. Joshua starrte sie an, wie sie verschwitzt und zitternd in ihre Decken eingewickelt und beinahe bewegungsunfähig da lag. „Genevieve!?“, stellte er fassungslos fest. Die Tatsache, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb, beruhigte ihren Puls. „Verdammt“, murmelten beide leise – Genevieve, weil es sie schier umbrachte, wohl immer irgendwie Gefallen an dem Leid anderer zu finden; Joshua, weil er von der Situation überfordert war. „Was machst du hier?“, fragte er dann aufgebracht. „Sieht man doch“, erwiderte sie, zuckte mit den Schultern und kämpfte gegen das Wohlgefallen, erneut in ihr gewohntes Muster zurückzufallen, an. Joshua seufzte. „Wieso hast du das gemacht?“, war seine nächste Frage. „Ich sagte doch: Ich werde dein Leben zur Hölle machen.“ Ihre Augen blitzten. „Und deswegen hängt mir einen Selbstmordversuch an, den du nie durchgeführt hast?!“ Er riss entsetzt die Augen auf. „Anscheinend“, antwortete sie gleichgültig und bekam als Antwort sein Schweigen. „Warum?“, durchbrach er schließlich die Stille dann doch. „Du hast mich beleidigt“ Ihre Stimme war ruhig und fest und sie glaubte, dass das das Schlimmste für ihn war. „Aber…das war doch nur so im Affekt…“, seine Stimme wurde mit jedem Wort immer leise. „Denkst du, das interessiert mich?“, entgegnete sie kalt und er zuckte zusammen. „Mann, muss das sein?“ Es klang eher wie ein Flehen und weniger wie eine Frage. Sie bedachte ihn nur mit einem Blick. Joshua seufzte, dann sagte er: „Komm rein, bevor du erfrierst.“ „Nein“, weigerte sich Genevieve. „Wie bitte?“, rutschte es ihm irritiert heraus. „Nein“, wiederholte sie und bemerkte voller Freude, dass er zunehmend wütender wurde. Für einen Moment starrte er sie an, voller Wut, dann presste er zwischen den Zähnen „Dann eben nicht“ hervor und drehte sich um. Eine Weile starrte sie ihm durch die offene Tür hinterher, dann stand sie auf und schlug sie lautstark zu – in der Hoffnung, dass er das hörte. Dann versuchte sie, wieder einzuschlafen, erfolglos.

Irgendwann stand sie auf und verließ den Schuppen – sie brauchte frische Luft. Als sie herausgestolpert war, lief sie mitten in dichten Neben hinein, sie sah nicht mal – im wahrsten Sinne des Wortes – ihre eigene Hand vor Augen. Orientierungslos stolperte sie durch die Gegend, in der Hoffnung, irgendwo einen Anhaltspunkt zu finden. Bis sie schließlich mitten in klarer Luft stand. Der Übergang war so abrupt, dass sie für einen Moment dachte, sich den Nebel eingebildet zu haben, doch als sie sich umdrehte und ein, zwei Schritte machte, war die Luft um sie herum wie milchigweiß. Also kehrte sie erneut um und fand sich in der nebenfreien Zone wieder. Sie blickte hoch zum Himmel, der so blau war, dass die Farbe mehr weiß war als blau und mit zartrosa Linien durchzogen – es war fast zu schön, um wahr zu sein. Und obwohl es noch nicht mal dämmerte, stach der Mond blendend weiß hervor. Sie kramte eine Zigarette heraus und sah sich, während sie rauchte, ein bisschen um, in der Hoffnung, etwas Vertrautes zu entdecken – erfolglos. Also blickte sie wieder zum Himmel hinauf. Die zartrosa Linien hatten sich zu einem breiteren, pfirsichfarbenen Streifen gewandelt und Genevieve entfuhr ein wehmütiges Seufzen. Verzweifelt versuchte sie, diesen Moment einzufangen und in schöne, watteweiche Worte einzupacken und seufzte erneut, als sie sich eingestehen musste, dass sie das niemals schaffen würde und dass Joshua besser hinbekommen würde als jeder andere, den sie kannte. Sie betrachtete den Himmel noch eine ganze Weile, beobachtete, wie sich die Farben änderten, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Angespannt fuhr sie herum. Joshua grinste ihr entgegen. „Wolltest du rein und hast dich verlaufen?“ „Nein“, fauchte sie. „Ach?“, erwiderte er und zog spöttisch eine Augenbraue hoch, Genevieves Antwort war ein einfaches Schnauben. Sie spürte, wie etwas in ihr hochstieg und sie wehrte sich verzweifelt gegen die Schwäche, die ihr ‚kaltes Ich’ niederrang, nun triumphierend einen Fuß auf den besiegten Gegner und voller Freude die Hand in die Luft reckte. Mit bebender Stimme brachte sie, gerade noch, bevor ihr die Tränen in die Augen traten, heraus: „Verschwinde.“ Doch Joshua kümmerte sich nicht darum, sondern machte ein paar Schritte auf sie zu und berührte sie am Arm. „Hey“, sagte er leise. „Alles ist okay.“ „Nein“, schrie sie und schüttelte seine Hand ab. „Nein, wird es nicht. Niemals. Nie im Leben!“ Sie hoffte, dass der Nebel sowohl ihre Worte als auch ihre tränenerstickte Stimme verschlucken würde. „Verdammt, Joshua, hör einfach auf, ständig in meinem Leben aufzutauchen und es wieder und wieder auf den Kopf zu stellen. Das macht mich wahnsinnig, es bringt mich um. Hörst du, es bringt mich um.“ Mit verschwommener Sicht starrte sie ihn an, versuchte, ihn klar und deutlich zu erkennen, während er sie einfach nur anschwieg. „Hast du mir überhaupt zugehört?“ Ihr Stimme wurde immer schriller und es dauerte einen Moment, bis er sagte: „Hab ich.“ Aber im Gegensatz zu ihr klang es wie ein Flüstern. „Dann sag was dazu.“, forderte sie, immer noch tränenerstickt, zitternd, schreiend. „Was soll ich denn dazu sagen?“, entgegnete er und wurde jetzt auch etwas lauter. „Weiß ich nicht? Vielleicht so was wie ‚Tut mir leid’?“, antwortete sie. Seine Antwort war wieder in einer normalen Tonlage, als er sagte: „Tut es mir aber nicht.“ Genevieve hatte das Gefühl, etwas würde sie nach hinten stoßen und stolperte ein paar Schritte nach hinten, ehe sie entsetzt und leise stammelte: „Es…es tut dir nicht leid?“ „Nein“, erwiderte er ruhig. „Wieso?“, wisperte sie fassungslos. „Du hast so viele umgebracht. Vielleicht nicht körperlich. Aber du hast so viele in den Wahnsinn getrieben und sie sind psychisch am Ende. Gleiches Recht für alle.“ Das haute sie so um, dass sie nervös eine Zigarette rauchte, doch machte alles nur noch schlimmer. „Und deswegen tust du das also?“, fragte sie und bemühte sich, ruhig und gefasst zu reden. „Sagte ich doch gerade“, sagte Joshua, nahm ihr die Zigarette aus der Hand, betrachtete sie, zuckte die Schultern, zog daran und hustete, ehe er sie fallen ließ. „Geht’s noch?“, fauchte Genevieve, aber er lachte nur und lachte noch mehr, als sie ihm diverse Beleidigungen an den Kopf warf. Dann drehte er sich um und rief, noch während er ging: „Wir sehen uns!“ Wütend sah sie ihm hinterher, dann versuchte sie, zum Schuppen zurückzufinden.

Am nächsten Morgen besuchte Joshua sie. „Hey“, sagte er fröhlich und das Geschehnis zuvor wohl bereits vergessen. „Ich hab Post für dich!“ Er hob einen Stapel Briefe hoch. Genevieve beschloss, auf die Nacht zuvor nicht mehr zurückzukommen und fragte deshalb neugierig: „Was ist das?“ „Ich hab alle, mit denen du irgendwann mal was zu tun hattest, gebeten, dir Briefe – als eine Art Abschiedsbrief, immerhin denken sie ja immer noch, dass du tot bist - zu schreiben und dass ich sie alle verbrennen würde, ohne sie zu lesen. Zum Glück wollte keiner dabei sein. Dachte, du willst sie vielleicht lesen.“, erklärte er und drückte ihr die Briefumschläge in die Hand, setzte sich dann neben sie auf den Boden und beobachtete sie, wie sie erst mal nachsah, wer ihr alles geschrieben hatte. Einen betrachtete sie etwas länger. „Mach schon auf!“, forderte Joshua sie schließlich auf. „Er…er ist von Hannah“, murmelte sie.
 Hannah war ein zartes Mädchen. Sie wirkte so zart und verletzlich, dass man manchmal Angst hatte, sie überhaupt anzusehen, denn es wirkte oft genug so, als würde auch nur ein einziger Blick sie zerbrechen – und genau so verhielt sie sich auch. Vorsichtig, behutsam. Gleichzeitig behandelte sie alle anderen auch so, Genevieve hatte das immer auf irgendeine Art an ihr geschätzt. Hannah hatte auch oft geweint und gezeigt, wie sehr sie unter Genevieves kontrollsüchtiger, eiskalter Art gelitten hatte und daran zerbrochen war. Aus diesem Grund hatte Genevieve es nicht lange mit ihr ausgehalten – denn egal, wie sehr sie es genoss, im Leid anderer zu baden, das war selbst ihr zu viel geworden.
Sie zögerte noch einen Moment, dann öffnete sie den Brief.

Genevieve,
ich bin mir ehrlich gesagt nicht so ganz sicher, was ich schreiben soll.
Irgendwie will ich, dass du weißt, dass ich dich vermisse und gleichzeitig so froh bin, dich los zu sein.
Weißt du, Menschen wie ich tun alles für andere. So viel, dass sie daran kaputt gehen und wie du weißt, erwartet jeder in gewisser Weise, das zurückzubekommen, was er anderen gibt, auch, wenn manche das vielleicht nicht zugeben. Vielleicht erwarten sie nicht unbedingt alles zurück, aber zumindest einen Teil davon.
Ich habe immer alles für dich getan. Alles. Jederzeit. Aber du hast mir nicht mal einen Bruchteil davon zurückgegeben. Eigentlich war das okay für mich, es war für mich schon genug „Zuneigung“ – wobei ich mich frage, ob es wirklich auch nur annähernd Zuneigung war, das du für mich empfunden hast – deinerseits, dass du mich überhaupt auch nur beachtet hast. Menschen wie ich werden deswegen so oft verletzt. Ich möchte jetzt aber nur für mich sprechen, aber ich denke, du kannst das am ehesten bestätigen.
Ich habe alles – egal, ob es dabei um dich ging oder um andere – wortlos mitgemacht, habe einfach geschwiegen und die Menschen konnten mit mir machen, was sie wollten. Dass ich auch Bedürfnisse habe, manche Dinge nicht tun möchte…dieser Gedanke ist wohl zu absurd, um gedacht zu werden, was? Wenn ich dann doch mal den Mund aufgemacht, mich geweigert oder meine Meinung gesagt habe, wurde ich dumm angemacht, ich würde nur an mich denken. Oder sie waren so überrascht, dass sie ganz angepisst waren. Was auch immer. Die Menschen haben immer erwartet, dass ich für sie da bin und als ich das nicht war, haben sie dir die Schuld gegeben – was ich abgestritten habe. Inzwischen muss ich mir leider eingestehen, dass sie recht hatten. Ich war so eingenommen davon, dir alles recht zu machen, dass ich nicht für andere da sein konnte. Die Zeit mit dir war sowohl die schönste als auch die grausamste Zeit in meinem Leben, aber letztendlich voller Erfahrungen, deswegen muss ich dir, wohl oder übel, danken. Ich würde gerne sagen, dass du mich stärker gemacht hast – aber das wäre gelogen. Du hast mich zerstört. Stück für Stück. Jedes deiner Worte war nicht nur ein Messer, sondern winzige, feine Glassplitter, die sich in mein Herz gebohrt haben. So langsam, dass es viel mehr weh tat, als es sowieso geschmerzt hat.
Was auch immer du tust, ich hoffe, dir geht es jetzt gut. Vielleicht quälst du ja gerade ein paar Engel oder bist gar nicht tot und quälst Menschen, die wie Engel sind – eigentlich ist es egal, kommt ja doch auf dasselbe raus.
Hannah

Genevieve schluckte. „Darf ich…?“, fragte Joshua zögernd, doch sie schüttelte hastig den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass Hannah ihr entglitt – dass sie erst jetzt dieses Gefühl hatte, nach so langer Zeit, störte sie gewaltig. „Ich…ich glaube, ich…ich fühle mich…schuldig“, stammelte sie leise. „Schuldig?“, wiederholte er flüsternd, als könne er es nicht glauben. „Ja. Schuldig.“ Genevieve ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, es klang fremd und beunruhigte sie etwas. Sie hasste Dinge, die ihr so unbekannt waren. „Also…ich weiß ja nicht, ob’s dir hilft, aber…Hannah sah irgendwie glücklich aus, als sie mir den Brief gegeben hat.“, sagte Joshua dann zögernd. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, dann seufzte sie. „Ehrlich gesagt bin ich jetzt nur noch verwirrter.“ „Hm“, machte er, wusste nicht, was er sagen sollte. „Verdammt“, fluchte sie und pfefferte den Brief auf den kalten, staubigen Schuppenboden. Sein Blick lag eine Weile auf dem Papier, dann löste er sich aus seiner Starre und rief: „Du kommst jetzt hoch zu mir. Keine Widerrede!“ Ohne sich zu wehren stand Genevieve auf und folgte ihm.

Sie betrat wortlos sein Zimmer und lächelte unwillkürlich, als sie seine Gitarre entdeckte. Nachdem sie sich aufs Bett gesetzt hatte, bat sie: „Spiel mir was vor!“ Er lachte und tat ihr den Gefallen. Zuerst verlangte sie Lieder, dann musste sie die Lieder erraten, die meisten kannte sie nicht. Irgendwann legte er die Gitarre weg. „Wir müssen reden.“, sagte er ernst. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Müssen wir nicht.“ „Doch, Genevieve. Müssen wir.“ Seine Hartnäckigkeit nervte sie. „Worüber denn?“, fauchte sie. Er grinste. „Das kann nicht so weitergehen. Menschen zerstören, sich selbst verlieren, sich selbst einreden, sich doch gefunden zu haben, verstecken, Menschen zerstören…Es ist ein ewiger Kreislauf, das weißt du?“, erklärte er, beinahe vorsichtig. Genevieve schwieg, wusste, dass er recht hatte. „Aber es lebt sich gut so“, wandte sie leise ein. „Es ist einfach, aber nicht gut.“, erwiderte er. „Und woher willst du wissen, was für mich gut ist?“, keifte sie los. „Nein, das…das wollte ich doch gar nicht damit sagen!“, stammelte er, ein wenig überrascht. „Ach? Was denn dann?“ „Dass man merkt, wie…schlecht es dir geht…“ Entsetzt starrte sie ihn an. „Es ging mir nie besser!“, schnaubte sie. Joshua lachte auf. „Natürlich“, seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dann machte er ein besorgtes Gesicht, als er die Tränen in ihren Augen sah. „Hey“, sagte er sanft, stand auf und wollte auf sie zugehen. „Ich hasse dich!“, stieß sie hervor, während sie ein paar Schritte nach hinten machte und ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.
 Sie wollte nicht weinen. Noch vor ein paar Stunden hatte sie sich geschworen, nie wieder einzuknicken, nie wieder zu weinen. Dass dieses Vorhaben jetzt schon nicht klappte, machte sie wütend.
Joshua legte den Kopf schief. „Tust du nicht. Eigentlich bist du dankbar, dass ich da bin. Dass ich dich nicht auslache, wenn du weinst. Dass ich dich wie einen Menschen und nicht wie eine Göttin behandle. Und das hasst du. Du hasst es, dass du dankbar bist – dafür dankbar bist. Das passt nicht in dein kaltes, herzloses, egoistisches, emotionsloses Leben. Und das ist okay.“ Ihre Knie gaben nach, sie brach zusammen. Sie heulte und schrie, während sie auf dem Boden saß. Joshua setzte sich neben sie und strich ihr schweigend über den Rücken.


Nachdem sie sich beruhigt hatte, sagte er: „Ich hab eine Idee.“ Fragend – und mit immer noch geröteten Augen – sah sie ihn an. „Neustart.“ Ihr Blick war nur noch verwirrter. „Du wechselst die Schule. Du wechselst auf eine Schule, auf der niemand dich oder deine…Vergangenheit kennt. Dann bist du nicht die kontrollsüchtige Genevieve, sondern die freundliche Gen.“ „Niemand nennt mich Gen. Niemand.“, sagte Genevieve scharf. „Gut. Dann bist du die freundliche Genevieve, okay?“, korrigierte er sich und sie nickte. „Das klingt gut. Aber…“, es kostete sie sichtlich Überwindung, die Worte auszusprechen. „…alleine schaff ich das nicht.“ Mit großen Augen blickte Joshua sie an. „Das heißt, ich…?“, setzte er an und sie nickte energisch und kam sich dabei vor, als wäre sie fünf. „Gut. Dann wechseln wir zusammen die Schule.“